Virologin Melanie Brinkmann „Läuft es schlecht, kommt die vierte Welle im Sommer“

Interview | Berlin · Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung spricht über Bauchschmerzen bei den Öffnungsschritten und fordert, dass zuerst alle Erwachsenen geimpft werden. Die Regierungsberaterin warnt vor einer Öffnung der Fußballspiele für Zuschauer.

 Virologin Melanie Brinkmann.

Virologin Melanie Brinkmann.

Foto: imago images/photothek/Thomas Trutschel/imago

Das Robert-Koch-Institut hat die Risikolage von „sehr hoch“ auf „hoch“ heruntergestuft. Ein richtiger Schritt?

Brinkmann Ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Da wir bei den Impfungen der Risikogruppen schon sehr weit vorangeschritten sind, haben wir zwar das Risiko abgewendet, dass die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenze kommen. Trotzdem sind eben längst nicht alle älteren Menschen geimpft. Ich habe auch Bauchschmerzen, wenn nun alle Kinder wieder in die Schule gehen und fast zeitgleich in manchen Regionen sogar die Maskenpflicht im Unterricht aufgehoben wird.

An diesem Mittwoch ist die bundesweite Inzidenz wieder gestiegen. Eine normale Schwankung oder ein Grund zur Sorge?

Brinkmann Ich bin während dieser Pandemie immer auf der besorgten Seite. Das große Problem ist, dass viele Bereiche gleichzeitig wieder geöffnet werden. Am meisten Sorgen bereiten mir größere Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen, z.B. Fitnessstudios, Hallensport oder Innengastronomie - mir wird dabei ganz anders. Ich fürchte die Zahlen werden über kurz oder lang wieder steigen.

So hoch, dass wir eine vierte Welle erleben werden?

Brinkmann Die Frage ist, was man als Welle definiert. Wenn die Zahlen wieder ansteigen, hat das auch einen Effekt auf das Verhalten der Menschen. Viele werden sich dann wieder vorsichtiger verhalten. Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn die Bundesnotbremse ausgesetzt wird, weil damit ein wichtiger Notfallmechanismus wegfällt. Man hat das mit so viel Mühe durchgesetzt und jetzt lässt man es einfach auslaufen. Das kann ich nicht nachvollziehen.

Ließe sich eine vierte Welle mit der Notbremse verhindern?

Brinkmann Im Prinzip ja. Ich finde die Schwellen für die Notbremse zu hoch. Aber von der zu Grunde liegenden Logik funktioniert das schon. Ich finde es wirklich fatal, erst zu reagieren, wenn die Krankenhäuser wieder voller werden. Das Ziel muss doch sein, dass Menschen gar nicht erkranken oder ins Krankenhaus müssen. Ich bleibe bei meiner Einstellung: jede Infektion ist eine zuviel.

Wenn Sie von steigenden Zahlen sprechen, welche Größenordnung haben Sie dabei im Blick? Wieder Inzidenzen von 100?

Brinkmann Ja, ich befürchte, das kann ganz schnell gehen, auch im Sommer. Man kann die Ansteckungsgefahr der Delta Virusvariante noch nicht genau absehen, aber die derzeitige Impfquote reicht in der jetzigen Lage noch nicht aus, um eine erneute Ausbreitung des Virus zu verhindern. Sinnvoll wäre es, jetzt die Zahlen noch weiter zu senken. Stellen Sie sich mal vor, wir rasseln pünktlich zu den Sommerferien in die vierte Welle hinein, was dann hier los wäre! Ich bleibe im „Team Vernunft und Vorsicht“ – je niedriger die Inzidenzen, am besten unter zehn, desto unbeschwerter können wir den Sommer genießen.

Halten Sie es denn für denkbar, dass die vierte Welle noch in diesem Sommer kommt?

Brinkmann Wenn es richtig schlecht läuft, dann schon. Aber ich glaube, es wird sehr starke regionale Unterschiede geben. Wichtig ist, dass weiterhin sehr viel getestet wird. Denn der Eindruck trügt, dass wir durch das Impfen schon auf der sicheren Seite sind. Das sind wir noch nicht. Das Ziel sollte sein, mit niedrigen Inzidenzen unter zehn in den Sommer zu gehen, und dazu braucht es Impfung, Testen, Masken.

Wie lange werden wir noch Masken tragen?

Brinkmann Es wäre sinnvoll sie noch länger zu tragen, denn hohe Impfquote plus Maskentragen und Testen könnte wohl schon ausreichen, um die Pandemie zu kontrollieren. Daher denke ich wir werden den kommenden Winter noch Masken tragen, zumindest wäre es sehr sinnvoll.

Sie haben sich mit anderen Wissenschaftlern zur No-Covid-Gruppe zusammengeschlossen. Glauben Sie wirklich, dass man das Virus ausrotten kann? Ist das wegen des langen Lockdowns nicht völlig unrealistisch?

Brinkmann Das ist ein Missverständnis. Wir wollen und können das Virus nicht mehr ausrotten, aber wir müssen es beherzt kontrollieren. Und das geht am einfachsten, wenn wir die Inzidenz sehr niedrig halten, am besten unter zehn. Die Kanzlerin hat uns verstanden. Es wäre doch fatal, wenn wir jetzt so stark lockern, so dass die Inzidenz wieder ansteigt, und wir damit dann in den Herbst gehen.

Was passiert dann?

Brinkmann Das wird im kommenden Herbst und Winter ganz entscheidend von der Immunität der Bevölkerung abhängen, also der Impfquote. Mit niedriger Inzidenz plus hoher Impfquote wäre die Grundlage für eine dauerhafte Lockerung gelegt. Im vergangenen Herbst und Winter hätte sich Deutschland die dritte Welle, viele Kranke und Tote ersparen können, wenn man im Herbst nicht so leichtfertig gewesen wäre.

Sie haben im Februar vor 180.000 Covid-Toten unter 60 Jahren gewarnt. Es kam anders, heute liegen wir bei rund 89.000. Kann man Ihren Warnungen dann noch glauben?

Brinkmann Ich habe damals ein realistisches Szenario skizziert, was passieren könnte, wenn alles gelockert würde, also ein „reset“ zum Zustand vor der Pandemie. Diese Zahl von Toten hätte dann durchaus eintreten können. Aber ich finde auch die bald 90.000 Toten immer noch sehr erschreckend. Vielen Menschen ist nicht klar, mit welcher Wucht ein exponentielles Wachstum hochschnellen kann, wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert. Ich halte es immer noch für wichtig, mögliche Szenarien klar zu beschreiben. Die Ministerpräsidenten entscheiden dann ja sowieso, wie sie es für richtig halten.

Wie sieht es jetzt auf den Intensivstationen aus?

Brinkmann Es ringen immer noch tausende täglich um Ihr Leben aber die Lage hat sich im Vergleich zu vor ein paar Monaten deutlich entspannt. Das ist gut, weil dem Gesundheitssystem keine Überlastung mehr droht. Zugleich wächst damit die Gefahr, dass die Gesellschaft leichtfertig wird. Hospitalisierung und Tod sind nicht die einzigen Folgen, die wir vermeiden müssen.

Sie denken an die langfristigen Schäden …

Brinkmann In Kliniken werden schon jetzt auch 20- oder 30-Jährige behandelt, die an Long Covid leiden - mit Problemen wie chronischer Erschöpfung und kognitiven Symptomen. Die „New York Times“ spricht hier zurecht von einer Art „zweiten Pandemie“, deren Ausmaße wir erst nach und nach in vollem Umfang erkennen werden.

Im Februar haben Sie noch prognostiziert, dass bis September maximal die Hälfte der Bevölkerung geimpft sein wird. Jetzt sieht alles danach aus, dass es besser läuft. Sind Sie froh, dass Sie sich geirrt haben?

Brinkmann Natürlich bin ich immer froh, wenn es besser läuft, als ich befürchtet habe. Trotzdem sieht man jetzt deutlich, dass wir viel zu wenig Impfstoff zur Verfügung haben. Ich bin nach wie vor skeptisch, ob das Versprechen der Bundesregierung zu halten ist, bis Ende des Sommers allen Bürgern ein Impfangebot zu machen. Und ein ‚Impfangebot‘ alleine führt noch keine Immunität herbei. Dafür muss schon tatsächlich geimpft werden.

Bei den Impfungen für Kinder zeigt sich die Ständige Impfkommission noch skeptisch, Gesundheitsminister Jens Spahn will trotzdem loslegen. Wird damit nicht große Unsicherheit geschürt?

Brinkmann Doch natürlich. Diese Verunsicherung ist ein riesiges Problem. Die bisherigen Studien zu den Kinderimpfungen sind relativ klein, und die Datenlage daher noch nicht eindeutig. Und wir haben aktuell ohnehin zu wenig Impfstoff, um alle Kinder zu impfen. Die Priorität sollte nach wie vor sein, alle Erwachsenen zuerst zu impfen.

Sollten die Kinderärzte sich an der Zulassung der EMA orientieren oder an der Empfehlung der Stiko?

Brinkmann Im Grunde stellt sich die Frage wegen des knappen Impfstoffs noch nicht. Und in einigen Wochen wird die Datenlage deutlich besser sein. Ich halte es im Moment für sehr wahrscheinlich, dass das Ergebnis sein wird, dass es sinnvoll ist, auch Jugendliche zu impfen. Auch im Hinblick auf das individuelle Risiko zwischen Impfung und Infektion.

Blicken wir nach vorne: Wird es in diesem Jahr wieder Fußballspiele mit Zuschauern geben?

Brinkmann Ach ja, die Fußballspiele. Haben wir keine anderen Sorgen? Ich finde es deutlich wichtiger, dass Kinder wieder in die Schule und zum Sport gehen können, Menschen ihre Jobs nicht verlieren und wir bei sozialen Benachteiligungen und Bildungslücken gegensteuern. Natürlich finden Fußballspiele draußen statt und es geht mit dem Impfen voran. Doch sinnvoller wäre es gewesen, erst beim Impfen weiter Tempo zu machen. Auch wenn die Impfstofflieferungen hoffentlich bald zunehmen werden, müssen wir noch viel Energie investieren, mehr Menschen von der Impfung zu überzeugen.

Sind Sie für eine Impfpflicht?

Brinkmann Nein. Aber ich glaube schon, dass wir mehr Anreize schaffen müssen, und durch gute Aufklärung Überzeugungsarbeit leisten müssen. Und vor allem müssen wir die Impfung für viele Menschen leichter zugänglich machen, nicht jeder hat einen festen Hausarzt und kümmert sich selbst aktiv um seine Impfung. Deswegen müssen die Angebote deutlich besser und niederschwelliger werden, auch für sozial benachteiligte Gruppen oder Menschen mit Sprachbarrieren. Wenn in der Zukunft auch Jugendliche geimpft werden sollen, fände ich Schulimpfungen im Grunde sinnvoll, um möglichst schnell voran zu kommen. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass wir mehr Wissen darüber haben, wie sicher die Impfung für Kinder ist.

Weltweit entstehen immer wieder neue Mutationen. Wie zufrieden sind Sie mit den Sequenzierungen der Befunde? Haben wir ausreichen Überblick über die Virusvarianten?

Brinkmann Wie beim Impfen ist uns Großbritannien auch hier weit voraus. Einzelne Städte sequenzieren sehr viel, doch ein flächendeckender Überblick fehlt. Auch das Abwasser-Screening könnte helfen, steigende Infektionszahlen früh zu entdecken. Hier könnte die Politik noch sehr viel tun.

Welche Mutationen machen Ihnen besonders Sorgen?

Brinkmann Die Variante Delta, die vor allem in Indien aufgetreten ist, macht mir Sorgen. Sie ist in einigen Ländern weit auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland gibt es erste Fälle und auch hier wird sie sich wahrscheinlich durchsetzen und ausbreiten, solange wir Infektionsgeschehen auf hohem Niveau zulassen.

Entstehen schon „Escape-Mutanten“, die dem Impfen entkommen, weil die Antikörper sie nicht mehr erkennen?

Brinkmann Die Gefahr besteht, dass sich Escape-Mutanten entwickeln. Doch wer geimpft ist, hat eine Grundimmunisierung, die ihn auch vor solchen Mutanten zumindest teilweise schützt. Schließlich besteht die Immunantwort nicht nur aus Antikörpern, sondern auch aus T-Zellen, die die Viren angreifen. Zudem lassen sich gerade mRNA-Impfstoffe schnell und leicht anpassen.

Für Ihre düsteren Prognosen und harten Forderungen sind Sie öffentlich oft kritisiert worden. Was macht das mit Ihnen?

Brinkmann Manchmal ziehe ich mich für eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück, allein auch aus zeitlichen Gründen, aber ich habe keine Angst. Wenn ich als Wissenschaftlerin von etwas überzeugt bin, sage ich das auch klar und deutlich. Und wenn ich mich im Lichte neuer Daten korrigieren muss, tue ich das ebenfalls.

Erwarten Sie eine neue Pandemie?

Brinkmann Die nächste Pandemie wird kommen – ob es ein Sars-Cov3-Virus wird oder ein anderes, werden wir sehen. Ob morgen oder in zehn, 20 oder 30 Jahren, wir wissen es nicht.

Und was muss die Gesellschaft tun, um besser vorbereitet zu sein?

Brinkmann Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Medizin und Wissenschaft sind, aber auch wie wichtig es ist, gut zu kommunizieren. Ein interdisziplinäres Pandemie-Expertengremium hielte ich für sehr sinnvoll, um die Politik wissenschaftlich zu begleiten, und mit ihr im ständigen Dialog zu bleiben und die Pandemie in ihrer ganzen Komplexität zu beleuchten. Zudem sollte die Forschung weiterhin gefördert werden – ohne die langjährige Forschung zur mRNA-Technologie hätten wir heute keine mRNA Impfstoffe.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort