Aluhüte verschwunden? Gefahr durch Verschwörungsdenker schlummert weiterhin unter der Oberfläche

Analyse | Düsseldorf · Nach dem schweren Angriff auf Polizei- und Rettungskräfte in Ratingen wurde bekannt, dass der Tatverdächtige der Coronaleugner-Szene nahestehen und ein Prepper sein soll. Dabei schien mit dem Auslaufen der Pandemie auch das Verschwörungsdenken abzunehmen. Warum diese Fehlannahme gefährlich ist.

 Blumen am Ort der Explosion in einem Ratinger Hochhaus, bei dem mehrere Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr schwer verletzt wurden.

Blumen am Ort der Explosion in einem Ratinger Hochhaus, bei dem mehrere Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr schwer verletzt wurden.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Die Aluhüte sind verschwunden aus Demonstrationszügen in Deutschland: Mit dem Ende der Pandemie schien sich auch das Verschwörungsdenken zu verflüchtigen wie ein abklingendes Fieber. Als habe der Ausnahmezustand durch Corona in Teilen der Bevölkerung auch einen gedanklichen Ausnahmezustand hervorgebracht. Nun fährt man wieder Bahn ohne Maske, geht zu Festivals, hat viele Einschränkungen fast wieder vergessen – und damit scheint auch die Gefahr des Verschwörungsdenkens für Demokratie und gesellschaftliches Miteinander gebannt. Doch dann schleudert ein Mann während eines vermeintlichen Routineeinsatzes in Ratingen Brandbeschleuniger gegen Einsatzkräfte, verletzt viele von ihnen lebensgefährlich. Und später ergeben die Ermittlungen, dass der Tatverdächtige der Corona-Leugner-Szene nahestehen und ein Prepper sein soll, also einer, der in Erwartung einer Katastrophe lebte und Vorkehrungen traf. Gehortete Vorräte in der Wohnung und Waffen im Keller legten den Schluss nahe.

Ratingen: Explosion in Hochhaus am 11. Mai
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Explosion in Hochhaus in Ratingen – Mann zündet am 11. Mai Feuerwehrleute und Polizisten an

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Foto: dpa/David Young

Noch ist weiter vieles unbekannt über die Tat in Ratingen, bei der Menschen so schwer verletzt wurden – physisch wie psychisch. Und natürlich entschuldigt ein verschwörerisches Weltbild gar nichts. Ganz sicher keine Gewalt mit schrecklichen Folgen. Doch wäre es auch leichtfertig, die Umstände nicht wahrzunehmen. Denn anscheinend verschwindet einmal ausgeprägtes Verschwörungsdenken nicht einfach, nur weil die Mehrheitsgesellschaft es kaum noch wahrnimmt. „Personen, die vor oder während Corona in Verschwörungsideologien abgedriftet sind, hören nicht plötzlich auf, an sie zu glauben“, sagt die Soziologin Nora Pösl. Es habe sich beobachten lassen, dass Personen aus dem Querdenken-Umfeld im Zuge des Ukrainekrieges direkt in russische Propaganda abgerutscht seien. „Die rechten Terrorattentate in Hanau, Halle, der Mord an einem Tankstellenmitarbeiter in Kassel und auch die Razzien gegen die Szene von Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern haben gezeigt, was für großes Gewaltpotential vorliegt“, sagt Pösl. Auch Ratingen mache dies deutlich. Langfristig sei mit massiver Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit aus diesem Spektrum zu rechnen.

Auch im NRW-Verfassungsschutzbericht 2022 taucht das geschrumpfte, aber radikalisierte Protestmilieu aus der Corona-Zeit weiter auf. Zwar unterliege es ständigem Wandel, neue Themen wie steigende Energiepreise, Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland hätten die Corona-Themen abgelöst. Doch trotz der Vielgestaltigkeit habe die Szene ein gemeinsames Feindbild: die Eliten im Staat. Anscheinend erstreckt sich dieses Feinddenken auch auf die Vertreter des Staates in Gestalt von Feuerwehrleuten und Polizisten, selbst wenn sie von Nachbarn zu Hilfe gerufen werden.

Menschen hätten das Bedürfnis nach Kontrolle und versuchten bei einem erlebten Kontrollverlust wie einer Krise oder gesellschaftlicher Instabilität zu kompensieren, indem sie auch dort Muster sähen, wo keine sind, sagt die Soziologin Pia Lamberty, die ebenfalls zu Verschwörungsideologien forscht. Hinzu kämen Faktoren wie der Wunsch nach einer Welt, die strukturiert ist. „Der Glaube an Verschwörungen personalisiert alle gesellschaftlichen Probleme und reduziert komplexe Herausforderungen als Schuldfrage von einzelnen Akteuren“, sagt Lamberty. Dabei sei wichtig: Je stärker Menschen ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit hätten, je stärker also ihr eigener Narzissmus, desto stärker sei ihr Verschwörungsglauben. „Dieser Narzissmus geht wiederum oft mit Abwertung von anderen einher und kann ein Erklärungsansatz für Aggression sein“, sagt Lamberty.

Auch Teile der Prepper-Szene halten sich für eine besondere Gruppe, die drohende Gefahren erkannt hat, und sich individuell darauf vorzubereiten versucht. Das geht über die empfohlene Katastrophenvorsorge hinaus, zu der das Bundesamt für Bevölkerungsschutz die Bürger sogar anhält. Extreme Prepper leben mit pessimistischer Zeitdiagnose und halten die Gesellschaft für extrem verletzlich, sagen Soziologen, die sich empirisch mit der Szene beschäftigen. Das gehe oft einher mit Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Politikern, sogenannten Eliten. Telegram-Gruppen von Preppern sind in der Corona-Zeit deutlich größer geworden. Die Pandemie bestätigte die Prepper in ihrem Denken, sie war der Ernstfall, für den sie sich Jahre gewappnet haben. Das bietet auch Anknüpfungspunkte für Verschwörungsdenken, denn die liefern nicht nur scheinbare Erklärungen für unerwartete Krisen, sie entlasten auch von einem Gefühl, das auch Preppern besonders unangenehm ist: Ohnmacht. Verschwörungsdenker glauben ja, Verhältnisse zu durchschauen, die anderen Angst machen. Durch dieses Pseudowissen fühlen sie sich mächtig und überlegen.

Natürlich kann das leicht in soziale Isolation führen oder vorhandene Tendenzen verstärken. „Verschwörungsdenken führt zu einer Abgrenzung nach außen, alle Menschen, die nicht an die Verschwörungsideologien glauben, werden als naive „Schlafschafe“ betrachtet, die zu verblendet seien, um die vermeintliche Wahrheit zu erkennen“, sagt Soziologin Pösl. Dies führe zwangsläufig zu Konflikten. So kann die Abkapselung voranschreiten, bis Menschen nur noch andere Verschwörungsdenker zum Freund haben – oder niemanden mehr.

Aus der Forschung weiß man, dass an Menschen schwer heranzukommen ist, wenn sie einmal tief im Verschwörungsdenken stecken, und das Teil ihrer Identität geworden ist. Das weitere soziale Umfeld wie Nachbarn habe dann kaum noch Chancen, die Abkapselung zu durchbrechen, sagt Pösl. Umso wichtiger sei es, dass eine Gesellschaft die Gefahr von Verschwörungsideologien auch dann ernst nehme, wenn sie öffentlich kaum zu Tage treten würde. Wissenschaftliche Methoden, Umgang mit Medien, Quellen, Fake News müsse an Schulen stärker vermittelt werden. Dass es keine einfache Präventionsstrategie gibt, sagt auch Soziologin Lamberty. Es gehe um bessere Aufklärung und politische Bildung, um Verteilungsgerechtigkeit und Zugang zu politischer Mitbestimmung. „Es geht aber auch darum, als Gesellschaft klare rote Linien zu ziehen, wenn gewisse Grenzen überschritten werden. Alleine mit Verständnis für individuelle Krisen kommt man hier nicht weiter“, so Lamberty. Es müsse auch die soziale Norm geben, dass gewisse Dinge in einer Gesellschaft nicht akzeptabel sind.

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