Wirbel um Zwangsarbeiter-Aussage „Ich lade Frau Bahlsen gerne ins Dokumentationszentrum ein“

Hannover · Verena Bahlsen gehört ein Viertel des Keks-Konzerns - und sie glaubt, Zwangsarbeiter seien in dem Familienbetrieb während der NS-Zeit genauso bezahlt worden wie Deutsche. Das stimmt nicht, sagt die Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit.

 Unternehmerin Verena Bahlsen

Unternehmerin Verena Bahlsen

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Verena Bahlsen hätte am besten nichts mehr gesagt. Dann hätte man sie lediglich als Kapitalistin abgetan. Nun ist das Wörtchen „naiv“ – je nach Twitter-Kommentar auch gemeineres – hinzugekommen. Vergangene Woche sprach die Erbin des Keks-Unternehmens Bahlsen bei der Digital-Konferenz Online Marketing Rockstars in Hamburg. Dort gab sie sich als junge Weltverbesserin. Mit ihrem zu Bahlsen gehörenden Unternehmen Hermann‘s erforscht die 25-Jährige Lebensmitteltrends. Mit dem Ziel, nachhaltige Produkte zu kreieren.

Während ihres Vortrags in Hamburg fiel die Aussage: „Ich bin Kapitalistin. Mir gehört ein Viertel von Bahlsen und da freue ich mich auch drüber. Es soll mir auch weiterhin gehören. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen von meiner Dividende und so was.“ In den sozialen Medien empörten sich die Menschen. So mancher fragte, ob die Gesellschafterin des Keks-Unternehmens vergessen habe, dass ihr Reichtum unter anderem auf Zwangsarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus gründet.

Bahlsen hätte die Sache vermutlich schnell vom Tisch räumen können. Denn als 25-Jährige trägt sie an der Vergangenheit des Unternehmens keine Mitschuld. Doch Bahlsen polarisiert. Das tut sie gerne. Und deshalb ließ sie sich auf Nachfrage der „Bild“-Zeitung auch noch dazu verleiten, Folgendes zu sagen: „Das war vor meiner Zeit und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt. Das Gericht hat die Klagen abgewiesen. Heute liegen keine Forderungen mehr gegen Bahlsen vor. Bahlsen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.“

„Die Aussage von Frau Bahlsen stimmt so nicht“, sagt Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin. „Es gab während des Zweiten Weltkriegs bei den aus den besetzten Gebieten ins Reich verschleppten Männern, Frauen und Kindern zwar eine Art Grundlohn, doch wurden die Zwangsarbeiter, insbesondere die Osteuropäer, wesentlich schlechter bezahlt als die Deutschen. Es kam auch darauf an, um welche Zwangsarbeiter-Kategorie es sich handelte. KZ-Häftlinge erhielten grundsätzlich keinen Lohn. Das regelte die SS direkt mit den Unternehmen“, sagt Glauning. „Ich lade Frau Bahlsen daher gerne einmal zu uns ins Dokumentationszentrum ein, um sich im Gespräch und beim Gang durch unsere Ausstellungen über den Alltag und die Behandlung der Zwangsarbeiter zu informieren.“

Zwischen 1939 und 1945 arbeiteten mehr als zwölf Millionen Frauen und Männer aus vielen Ländern Europas zwangsweise für das Deutschen Reich. Es waren meist Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Zivilisten aus besetzten Ländern. Die Arbeitssklaven sollten die als Soldaten eingezogenen deutschen Männer ersetzen. Namhafte deutsche Firmen profitierten von den billigen Kräften. Auch Bahlsen. Das Unternehmen produzierte Notverpflegungen für die deutschen Soldaten, stellte Knäckebrot und Zwieback her und wurde damit zum kriegswichtigen Betrieb ernannt. „Bahlsen konnte so sein Kerngeschäft mit der Produktion von Nahrungsmitteln für die Wehrmacht fortführen“, sagt Glauning. Ab 1941 arbeiteten rund 200 Fremd- und Zwangsarbeiter im Unternehmen – hauptsächlich aus Polen und der Ukraine, damals bereits besetzte Gebiete.

Im Jahr 2000 wies das Landgericht Hannover eine Entschädigungsklage von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gegen Bahlsen ab. Die Ansprüche seien inzwischen verjährt, verkündete das Gericht. 60 Osteuropäer hatten von dem Unternehmen aus Hannover Zahlungen zwischen 9000 und 50.000 Mark verlangt. Insgesamt summierten sich die Ansprüche auf über eine Million Mark.

Nach Kriegsende mussten ehemalige Zwangsarbeiter lange auf eine Entschädigung warten. In Form von sogenannten Globalabkommen leistete die Bundesrepublik lediglich an einzelne Staaten Zahlungen. Erst 2000 – im selben Jahr, indem das Landgericht Hannover die Klage gegen Bahlsen ablehnte – entstand per Gesetz die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Deutsche Unternehmen, darunter Bahlsen, beteiligten sich nach großem Druck mit rund fünf Milliarden DM an dem 10-Milliarden-DM-Fonds zur Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter und anderer NS-Opfer. Die Zahlungen wurden 2006 offiziell eingestellt. 8,7 Milliarden DM (4,4 Mrd. Euro) gingen letzten Endes an die Hinterbliebenen vieler Zwangsarbeiter.

Die dunklen Kapitel des Zweiten Weltkriegs sind für einige Unternehmen selbst heutzutage ein Tabu. „Es gibt immer noch viele Unternehmen, bei denen die Kriegsjahre in der Chronik nicht auftauchen und das Thema Zwangsarbeit keine Rolle spielt oder verharmlosend dargestellt ist“, sagt Glauning.

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