Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine Willkommenskultur – ohne Illusionen

Analyse | Düsseldorf · Hunderttausende Ukrainer sind auf der Flucht – auch nach Deutschland. Diesmal ist das Land besser vorbereitet, sollte aber die Belastungen realistisch einschätzen. Denn in Europa schwelen die alten Konflikte.

Fotos: Erste Flüchtlinge aus der Ukraine erreichen Deutschland
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Erste Flüchtlinge erreichen Deutschland

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Foto: dpa/Boris Roessler

Nun gibt es wieder Bilder von erschöpften, verzweifelten Menschen, die auf deutschen Bahnhöfen ankommen. Berlin ist der erste Ankerpunkt für Tausende Ukrainer, vorwiegend Frauen und Kinder, die vor dem Angriffskrieg in ihrer Heimat geflohen sind. Es werden täglich mehr. Eine Million Menschen haben das Kriegsgebiet bereits verlassen und sind zunächst vor allem in Polen, Ungarn und Moldawien untergekommen. Einen derart schnellen Exodus hat Filippo Grandi selten erlebt, sagt der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, obwohl er seit 40 Jahren in Krisenregionen unterwegs ist.

Auch andere Migrationsexperten glauben, dass die aktuellen Bewegungen nur der Anfang sind. „Putin hat angekündigt, eine antirussische Ukraine unmöglich machen zu wollen“, sagt uns Gerald Knaus. Da die meisten Ukrainer verständlicherweise inzwischen antirussisch seien, sei das ein Krieg gegen das ukrainische Volk geworden. Putin habe im Grunde die Auslöschung der ukrainischen Identität zum Kriegsziel erklärt. „Wenn er nicht gestoppt wird, wird das zu einer humanitären Katastrophe führen, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat“, so Knaus.

Zehntausende flüchten nach Rumänien
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Zehntausende flüchten nach Rumänien

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Foto: dpa/Andreea Alexandru

In den Nachbarstaaten treffen die Geflüchteten auf große Hilfsbereitschaft, viele haben Verwandte oder Freunde dort, und zumindest in Polen können sie sich auch  gut verständigen. Zwei Drittel der Geflüchteten, schätzen Experten, wollen in den Nachbarländern bleiben. Doch legt die aktuelle Entwicklung nahe, dass sich  in den kommenden Tagen  auch eine große Zahl Geflüchteter weiter von ihrer Heimat entfernen und etwa nach Deutschland kommen wird. Die Kommunen und viele private Flüchtlingsinitiativen bereiten sich vor, sammeln Spenden, haben Listen mit Übersetzern parat, organisieren private Unterkünfte. Sie wissen noch, was jetzt gebraucht wird – und sind zur Stelle.

Natürlich erinnert das alles an die Jahre 2015/2016. Doch gibt es Unterschiede. Weil die Ukraine erwachsene Männer nicht mehr ausreisen lässt, kommen  vor allem Frauen und Kinder, es gibt eine größere kulturelle Nähe – was für das Recht eines Menschen, Schutz zu finden, keine Rolle spielt, Empathieempfinden ist aber durchaus eine Frage von Identifikation und Nähe. Die Verwaltung ist  besser vorbereitet, die Kommunen wissen, dass nun vor allem Unterbringung und  möglichst schnelle soziale Anbindung der Menschen nötig ist. Und es gibt private Strukturen, die jetzt die Kapazitäten schnell  hochfahren und das Zusammenspiel mit den Behörden gelernt haben. Das ist ein großer Schatz, und so erbittert über deutsche Willkommenskultur nach 2015 gestritten wurde, einmal mehr wird sich in den kommenden Wochen zeigen, wie viel Mitgefühl und Bereitschaft zu praktischer Hilfe  in Deutschland mobilisiert werden kann. Das sollte nicht kleingeredet werden.

Dazu ist die EU derzeit noch geschlossener als  2015. Die Innenminister der Mitgliedstaaten wollen eine Rechtsgrundlage in Kraft setzen, die sie nach den Balkan-Kriegen geschaffen haben, den Fall des „massenhaften Zustroms“.  Die Richtlinie sieht Schutz für zunächst ein Jahr vor, verlängerbar auf insgesamt drei Jahre. Die Ukraine-Flüchtlinge könnten arbeiten, ihre Kinder  zur Schule gehen – und das würde europaweit gelten. Das ist ein Fortschritt, weil es dazu beitragen könnte, die Belastung, die Flüchtlingsaufnahme immer bedeutet, besser zu verteilen. Doch wie mit Ukraine-Flüchtlingen aus Drittstaaten verfahren werden soll, sorgt schon für Streit. Außerdem muss Deutschland sehen, dass Geflüchtete aus der Ukraine, die frei entscheiden können, wo sie in Europa Schutz suchen, dorthin gehen werden, wo sie bereits Kontakte besitzen und auf gute Versorgung hoffen. Darum wird Deutschland wohl einmal mehr ein Hauptziel der Flüchtlingsbewegung werden. 

Flucht nach Moldawien und Slowakei
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Flucht nach Moldawien und in die Slowakei

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Foto: dpa/Sergei Grits

Solche Dinge zu benennen, gehört zum geforderten Realismus im Umgang mit der neuen Flüchtlingsbewegung – auch das ist eine Lehre aus den Jahren 2015/2016. Hilfsbereitschaft kann bröckeln, wenn sich in der Aufnahmegesellschaft Gefühle von Überforderung einstellen, wenn Menschen auf persönlicher Ebene schlechte Erfahrungen machen, wenn es zu Straftaten  oder gar Terroranschlägen kommt. 

Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, ist  darum skeptisch, wenn es um die Chancen geht, die aktuelle Willkommenskultur im Osten Europas zu nutzen, die europäischen Migrationspolitik langfristig gemeinschaftlicher zu gestalten. „Wir erleben gerade, dass sich die Unterstützungsbereitschaft  im Osten der EU  stark fokussiert auf die spezifische Situation, dass es einen Angriffskrieg gibt und dass davon Bürger der Ukraine betroffen sind“, sagt Oltmer. Dagegen gebe es weiter Ablehnung gegenüber notleidenden Menschen aus anderen Regionen der Welt. „Nach ersten Berichten wird an der Grenze sortiert und Menschen, die auf der Flucht etwa aus Nahost oder Afrika in der Ukraine gelandet waren oder dort studiert haben und keinen ukrainischen Pass besitzen, treffen auf weniger Aufnahmebereitschaft“, sagt Oltmer. Die eigentlichen Grundprobleme der europäischen Asylpolitik blieben also bestehen.

Fotos: Ukraine-Krieg - Menschen flüchten aus dem Land
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Menschen flüchten aus der Ukraine

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Foto: AP/Emilio Morenatti
Eine Frau aus der Ukraine mit ihrem Kind nach der Ankunft am Berliner Hauptbahnhof.

Eine Frau aus der Ukraine mit ihrem Kind nach der Ankunft am Berliner Hauptbahnhof.

Foto: dpa/Paul Zinken

 Dass die Europäer angesichts der humanen Katastrophe in der Ukraine diesmal auch in Sachen Flüchtlingsaufnahme zusammenstehen, liege daran, dass alle Mitgliedsstaaten die Krise ähnlich einschätzten, sagt Knaus. Menschen in Europa sähen dieselben dramatischen Bilder und deuteten sie ähnlich. „Das ist immer die Voraussetzung für gemeinsames Handeln“, sagt Knaus. Genau aus diesem Grund ist  allerdings auch er skeptisch, dass bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen der Zukunft ein europäisches System funktionieren wird. Bei den meisten Konflikten sähen Gesellschaften die Dinge nämlich unterschiedlich. „Dann entsteht die humanste Politik, wenn einige EU-Staaten vorangehen und Verantwortung übernehmen und sich nicht darum kümmern, dass andere nicht mitmachen.“ 

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