Twitter-Projekt Rostock-Lichtenhagen in Echtzeit

Düsseldorf · Vor 25 Jahren machten Deutsche im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen Jagd auf Asylbewerber – es waren die schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der Bundesrepublik. Ein Projekt bereitet die Ereignisse nun in Tweets auf, die fassungslos machen.

25 Jahre nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen
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25 Jahre nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen

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Foto: dpa, bwu kno

Vor 25 Jahren machten Deutsche im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen Jagd auf Asylbewerber — es waren die schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der Bundesrepublik. Ein Projekt bereitet die Ereignisse nun in Tweets auf, die fassungslos machen.

Wer am 21. August 1992 die Zeitung gelesen hatte, ahnte vielleicht, dass die nächsten Tage in Rostock nicht ruhig verlaufen würden. "Lichtenhäger Kessel brodelt" lautete an diesem Tag eine Überschrift in den "Norddeutschen Neuesten Nachrichten", einer Lokalzeitung in Rostock. Beim Brodeln blieb es nicht. Es folgten die schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der Bundesrepublik. Rostock-Lichtenhagen wurde zum Synonym für rassistische Gewalt in Deutschland. Die Ereignisse, die vor genau 25 Jahren weltweit für Schlagzeilen sorgten, hat das Projekt "Lichtenhagen im Gedächtnis" nun in Tweets aufbereitet. Via @LH92 lässt sich das Geschehen verfolgen, als hätte es damals bereits Twitter gegeben.

Im Zentrum der Ausschreitungen stand damals das Sonnenblumenhaus im dichtbesiedelten Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Dort befand sich neben der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber bereits seit Anfang der 80er ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter, die noch zu DDR-Zeiten gekommen waren. Im Sommer 1992 stieg die Zahl der Asylbewerber rasant. Es waren vor allem Geflüchtete aus Rumänien und dem ehemaligen Jugoslawien, in dem Bürgerkrieg herrschte. Darunter waren viele Roma. Weil die Aufnahmestelle mit 300 Betten darauf nicht vorbereitet war, campierten viele Flüchtlinge in den Grünanlagen vorm Haus. Die Stadt Rostock wollte das nicht unterstützen und stellte keine Toiletten auf, die hygienischen Bedingungen wurden immer schlechter. Die Situation begann auch die Anwohner zu stören, die ihren Ärger vor allem auf die ausländischen Bewohner im Sonnenblumenhaus richteten.

Ab dem 22. August versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Gebäude. Erst Anwohner, dann auch Neonazis, die ersten Steine flogen, Molotowcocktails, viele applaudierten, riefen rechte Parolen, gafften. "Spätestens am nächsten Tag hatte das Geschehen für die Angreifer und ihre Unterstützer den Charakter eines Volksfests angenommen, bei dem Imbissstände für Verpflegung sorgten", schreibt der Politikwissenschaftler in einem aktuellen Artikel über die Ereignisse in Lichtenhagen. Die Polizei unterschätzte die Gefahr. Häufig reichte die Zahl der Beamten nicht aus, um einzuschreiten. Am 24. August wurde die Asylunterkunft geräumt, damit blieb der Menschenmenge nur noch das Wohnheim der Vietnamesen für ihren Hass. Als sich die Polizei überfordert zurückzog, stürmte ein Mob das Haus, legte Feuer und verwüstete die Einrichtung. Dass niemand starb, war Glück. Die Bewohner flohen über das Dach eines benachbarten Gebäudes und wurden später mit Bussen weggebracht.

Mit Hilfe von lokalen Zeitungen, Unterlagen der Polizei und Feuerwehr, dem Untersuchungsausschuss und Augenzeugenberichten erinnert der Twitter-Account von "Lichtenhagen im Gedächtnis" jetzt daran, was sich damals zutrug.

So zeigt sich am frühen Abend des 22. August bereits, dass die Menschenmenge nicht friedlich bleiben wird.

Einige Tweets machen fassungslos, weil sie zeigen, wie sehr die Polizei die Gefahr unterschätzte und deshalb die Kontrolle verlor.

Der Account verschweigt aber nicht, dass auch linke Aktivisten bisweilen zu Gewalt griffen.

Was fehlt, ist die Perspektive der Flüchtlinge und Vietnamesen, räumt das Projekt auf seiner Webseite ein, das vom Rostocker Verein "Soziale Bildung e. V." getragen wird. Es gibt diese Quellen schlicht nicht. Außerdem weist das Projekt darauf hin, dass die Tweets keine reine Wiedergabe von Fakten seien, sondern "eine Collage der Überlieferung", also teils subjektiv geprägt sind.

Wer die Tweets liest, wird möglicherweise auch starke Zweifel entwickeln, ob die Politik damals richtig reagierte. Die Parteien nutzten diese und andere fremdenfeindliche Ausschreitungen, um das Asylrecht einzuschränken. Ein Argument: Solche Vorfälle ließen sich nur verhindern, wenn Zuwanderung begrenzt wird. Ende 1992 einigten sich CDU/CSU, FDP und SPD auf den so genannten Asylkompromiss. Im Mai 1993 beschloss der Bundestag eine Ergänzung des Artikels 16 des Grundgesetzes. Die Drittstaatenregelung legte fest, dass ein Flüchtling kein Anrecht auf Asyl hat, wenn die Person aus einem sicheren Land in die Bundesrepublik eingereist ist. Alle Nachbarländer Deutschlands galten als sicher. Damit durfte Deutschland jeden Asylbewerber abweisen, der auf dem Landweg eingereist war.

(seda)
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