Warteschlangen vor Konsulaten in NRW Was Erdogans Referendum für die Türkei bedeuten könnte

Berlin · Das Referendum über die Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem ist in Deutschland angelaufen. Vor einigen NRW-Konsulaten bildeten sich Warteschlangen. Die neue Verfassung hebelt viele Kontrollmechanismen und Machtbegrenzungen aus. Überraschungen sind möglich.

 Eine Türkin geht in München für ihre Stimmabgabe zum Verfassungsreferendum in die Kabine eines Wahllokals.

Eine Türkin geht in München für ihre Stimmabgabe zum Verfassungsreferendum in die Kabine eines Wahllokals.

Foto: dpa, kne wst

Für 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken haben nun für zwei Wochen auch in Deutschland in 13 Städten die Wahllokale geöffnet — teils standen Wähler zu Beginn des Referendums sogar an. Hier in Deutschland lebt die größte türkische Gemeinschaft außerhalb des Landes am Bosporus. Und hier setzt Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine ihm freundlich gesonnene Mehrheit, mit deren Hilfe er die Türkei in einen Erdogan-Staat umbauen will. Denn seine geplante Verfassungsänderung hat es in sich — sie geht weit über die angeblichen Vorbilder von Präsidialsystemen in Frankreich und in den USA hinaus.

Entfallen sollen die Wahl des Regierungschefs und die Verantwortlichkeiten der Regierung. Das wäre so ähnlich, als würde Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Wahl und Ernennung eines Bundeskanzlers abschaffen und die Minister einer von ihm geführten Regierung nach eigenem Gutdünken berufen. Die von Erdogan zur Abstimmung gestellte neue Verfassung vermeidet zudem alles, was in Präsidialsystemen an ausgleichenden Kontrollmechanismen durch Parlament oder Justiz eingebaut ist.

Da ist die gleichzeitige Wahl von Präsident und Parlament, was im Zweifel der Partei des Präsidenten die Mehrheit beschert. Zudem steht der Präsident nicht mehr über den Parteien, sondern er darf selbst Parteichef sein, wodurch er gleichzeitig diejenigen anführt, die ihn kontrollieren sollen. Das wirkt in jenen Verfassungskapiteln zusätzlich problematisch, in denen es um das Verfassungsgericht geht. Die Richterzahl will Erdogan verkleinern, zugleich seinen Einfluss auf die Richter-Auswahl vergrößern.

Viele Spitzenämter der Türkei sollen künftig nicht mehr aufgrund von gesetzlichen Vorgaben mit klaren Mitwirkungsrechten und Auswahlkriterien vergeben werden, sondern allein auf der Grundlage von Präsidialverordnungen. Freie Hand gibt sich Erdogan auch bei der Auflösung des Parlaments. Er will dies künftig jederzeit auch grundlos tun können. An dieser Stelle zeigt sich eine große Hintertür: Dann entfällt nämlich die Vorgabe, dass der Präsident höchstens zwei Wahlperioden im Amt sein darf. Wird das Parlament vor dem Ende der regulären Wahlperiode aufgelöst, darf der Präsident "noch einmal" kandidieren (Artikel 116).

Kritiker lesen aus der unscharfen Formulierung die Möglichkeit heraus, dass Erdogan immer wieder das Parlament auflösen und ein weiteres Mal antreten könnte. Der heute 63-jährige Erdogan könnte auf diese Weise auch über das Jahr 2029 hinaus im Amt bleiben.

Das ist auch eine persönliche Versicherung vor unliebsamen Nachstellungen. Denn viele Experten gehen davon aus, dass sich Erdogan nicht wie gewöhnliche Ex-Präsidenten irgendwann zur Ruhe setzen und seine Freiheit genießen kann, sondern sich dann mit Anklagen und Haft konfrontiert sehen wird. Scheinbar generös trägt Erdogans neue Verfassung der Möglichkeit von Verfehlungen auch des Präsidenten Rechnung. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Verfassung, die nur den Landesverrat als Anklagegrund kennt. Doch das Vorgehen gegen einen Präsidenten ist an etliche erst noch zu bildende Gremien und Zeitabläufe geknüpft, die allesamt von ihm beherrscht wären, so dass dieses "Entgegenkommen" für ihn eher eine Versicherung gegen Amtsenthebungen darstellt.

Selbst in möglichen Schwächephasen will er sein Umfeld jederzeit im Griff behalten. Gehen die Amtsgeschäfte bei Krankheit oder ähnlichem derzeit an den türkischen Parlamentspräsidenten über, so kann Erdogan mit der neuen Verfassung einen oder mehrere Stellvertreter benennen, die die Regierungsgeschäfte für ihn übernehmen. Artikel 106 hält das fest, und diese Bestimmung lässt zudem in dürren Worten erahnen, welche unbeschränkte Machtbefugnis das Präsidentenamt künftig in Sachen Exekutive haben soll: "Die Schaffung und Abschaffung von Ministerien, ihre Aufgaben und Befugnisse sowie ihre Organisation und Zentral- und Provinzorganisation werden durch Präsidialverordnung geregelt", heißt es weiter.

Es ist die verfassungsrechtliche Entsprechung jenes Türkei-Verständnisses, das bereits architektonisch in Erdogans Präsidentenpalast mit 1000 Zimmern und mit seinen Äußerungen zur türkischen Geschichte zum Ausdruck kommt: Eine Art fiktive Wiedergeburt des osmanischen Reiches unter Sultan Tayyip — mit allerdings gar nicht fiktiven Auswirkungen auf seine Untertanen. So haben es auch die Verfassungsexperten des Europarats, die sogenannte Venedig-Kommission, analysiert. Mit der neuen Verfassung bestehe "das Risiko, dass sich ein autoritäres Präsidialsystem entwickelt".

Ob Erdogan sich einen Gefallen mit der Eskalation des Streits mit der EU getan hat, erscheint eher fraglich. Bislang erreichte er in Deutschland weniger als die Hälfte der türkischen Staatsbürger, die dann freilich mehrheitlich für Erdogan stimmten. Nun hat er die Stimmung aufgepeitscht, was zu einer höheren Wahlbeteiligung führen dürfte. Aber: Überall ist zu hören, dass sich auch viele Erdogan-Gegner in die Wahllisten eintragen lassen. Sie werden von deutschen Politikern darin unterstützt.

"Wer die Möglichkeit hat, am Referendum teilzunehmen, sollte mit Nein stimmen", sagt Unions-Außenexperte Jürgen Hardt. Die Türken in Deutschland sollten ihren Landsleuten nicht die Rechte nehmen, die sie hier genössen. Auch SPD-Außenpolitiker Niels Annen will "Überraschungen nicht ausschließen". Noch nie hätten die in Deutschland stimmberechtigten Türken derart im Fokus gestanden. "Viel wird von der Wahlbeteiligung und der Mobilisierungsfähigkeit der Opposition abhängen", erläutert Annen. Wie demokratisch die Türkei bleibt, hängt somit auch vom Votum in Deutschland ab.

(may-)
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