Lars Klingbeil in der Türkei Der Albtraum nach dem Beben
Istanbul/Nurdagi · Seit dem Erdbeben in der Türkei sind mehr als sechs Wochen vergangen, weit über 50.000 Menschen sind in der Türkei und Syrien ums Leben gekommen. SPD-Chef Lars Klingbeil ist in das Erdbebengebiet gefahren, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Und den politischen Puls des Landes zu fühlen, das im Mai für einen großen Umbruch sorgen könnte.

ARCHIV - 27.02.2023, Türkei, Diyarbakir: Ein Polizist und ein Soldat gehen an Autos vorbei, die von den Trümmern eines Gebäudes bedeckt sind. Deutschland verdoppelt die Hilfe für die Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien. Insgesamt sollen nun 240 Millionen Euro mobilisiert werden, wie Außenministerin Baerbock am 20.03.2023 vor einer internationalen Geberkonferenz in Brüssel ankündigte. Foto: Mehmet Masum Suer/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: dpa/Mehmet Masum SuerDie Menschen sind weg. Verschwunden unter Geröllhaufen, unter Schutt, in Kratern. Im Schlaf wurden sie vom schweren Erdbeben am 6. Februar in der türkisch-syrischen Grenzregion überrascht. Öffentlichen Angaben zufolge kamen mehr als 53.000 Menschen bei dem Beben ums Leben. Wie hoch die Zahl wirklich ist, weiß niemand. Es sind nur Schätzungen. In der türkischen Stadt Nurdagi sind die Bagger nach wie vor im Einsatz. Aber Überlebende werden hier schon lange nicht mehr geborgen. Stattdessen werden die Überreste von Häusern, Moscheen und Fabriken abgerissen.
Nurdagi steht beispielhaft für viele Städte, die Erdbebenregion ist etwa halb so groß wie Deutschland, fast zwei Millionen Türken sind obdachlos. Etwa genauso viele haben die Region inzwischen verlassen, die anderen harren in Zelten aus. Die Behelfsunterkünfte stehen überall, die hygienische Situation ist schlecht. Rund 1400 offizielle und inoffizielle Camps soll es bislang geben. Denn auch die, deren Häuser noch stehen, kehren oft nicht zurück, die Angst vor Nachbeben ist groß. In Nordwestsyrien ist das Chaos noch größer. Hilfsorganisationen beklagen, dass es an allem fehlt, auch an schwerem Gerät, um überhaupt die größten Trümmer aus dem Weg zu räumen. Die, die überlebt haben, haben noch einen harten Kampf vor sich.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil will sich vor Ort ein Bild machen. Auch in Deutschland hat das Beben Spuren hinterlassen – viele kennen jemanden, der Angehörige verloren hat. „Die furchtbaren Bilder waren bei uns sehr präsent. Deutschland hat mit Ihnen geweint“, sagt Klingbeil am Dienstag bei dem Besuch in einer der vielen Zeltstädte. Es seien von Anfang an nicht nur „bloße Zahlen“ gewesen, die die Deutschen mit dem Erdbeben verbunden hätten.
Klingbeils Reise in die Türkei war lange geplant, dann kam das Beben. Die Reise ist jetzt auch eine Solidaritätsgeste – und soll auch klären, wie vor Ort gezielt geholfen werden kann. So baut etwa die Bundeswehr ein Feldlazarett auf, an einigen Orten beginnt bereits der Wiederaufbau, vor allem Experten in Sachen Erdbebensicherheit sind gefragt.
Den SPD-Chef erwartet ein prominenter Gastgeber. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei CHP, Kemal Kilicdaroglu, begrüßt den SPD-Politiker aus Deutschland. Draußen spielen Kinder vor den Zelten, Hühner laufen herum, hinter ihnen ragen die Skelette der zerstörten Häuser in die Luft.
Die Stimmung ist hektisch, viele Kameras warten auf die beiden sozialdemokratischen Politiker. An den CHP-Chef knüpfen sich viele Hoffnungen. Kilicdaroglu ist der Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in der Wahl am 14. Mai. Das aus sechs Parteien bestehende Oppositionsbündnis erklärte nach langen Verhandlungen der CHP zu Erdogans Herausforderer.
Hat das Beben Auswirkungen auf den türkischen Wahlkampf? Unklar, allerdings liegt in Umfragen der Kandidat der türkischen Opposition vorn. Erdogan und seiner regierenden AKP wird nach den Erdbeben unzureichendes und zu langsames Krisenmanagement vorgeworfen. Anfang Februar hatte es zunächst Zweifel gegeben, ob die Wahlen im Katastrophengebiet im Südosten des Landes überhaupt rechtzeitig vorbereitet werden können. Eine Einigung sieht nun vor, dass Erdbebenüberlebende dort wählen können, wo sie im Moment untergebracht sind.
Die Europäische Kommission sagte der Türkei und Syrien am Montag bei einer Geberkonferenz mehr als 1,1 Milliarden Euro für den Wiederaufbau zu, die Türkei erhält davon eine Milliarde Euro. Zu Syrien unterhält die EU wegen des seit 2011 währenden Krieges keine diplomatischen Beziehungen. Dennoch sollen Gelder in Höhe von 108 Millionen Euro für den Wiederaufbau an die Menschen dort fließen. Deutschland beteiligt sich insgesamt mit 240 Millionen Euro.
Doch es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nach Schätzungen der Weltbank sind in der Türkei Sachschäden in Höhe von rund 32,5 Milliarden Euro entstanden. Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Erholung könnten doppelt so hoch sein. Vor Ort herrscht der Eindruck vor, dass ein Wiederaufbau eher eine Sache von Jahrzehnten denn von Jahren ist.
Die Partei von Kilicdaroglu führt derzeit ihre Fraktionssitzungen jeweils dienstags in einer anderen vom Erdbeben betroffenen Stadt durch. Die Mienen der beiden Sozialdemokraten sind angespannt, die Lage ist bedrückend. Am Mittwoch soll es in Ankara dann politische Gespräche geben, abseits des Erdbebens. Mit dem Oppositionskandidaten verbinden sich Hoffnungen – auch für die deutsche Politik. Klingbeil gratuliert Kilicdaroglu zur Nominierung. Aber angesichts des menschlichen Leids tritt das zunächst in den Hintergrund.