Vor dem Urteil im NSU-Prozess Die rechte Gefahr ist nicht gebannt

München · Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten ist in Deutschland erneut gestiegen. Daran hat der NSU-Prozess nichts geändert. Heute soll das Urteil fallen.

 Auf diesem Parkplatz in Heilbronn wurde 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen. Regina Schmeken hat die Tatorte des NSU für einen Bildband fotografiert.

Auf diesem Parkplatz in Heilbronn wurde 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen. Regina Schmeken hat die Tatorte des NSU für einen Bildband fotografiert.

Foto: Regina Schmeken

Mit dem 4. November 2011 verändert sich die Bundesrepublik. Eine „braune RAF“, so hatten Verfassungsschützer über Jahre behauptet, gebe es nicht. Die Terrorgefahr, da war man sich einig, käme aus dem islamistischen Spektrum, nicht aber von rechts. Seit knapp sieben Jahren ist Deutschland schlauer. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) zog zwischen 2000 und 2007 durch die Republik und ermordete zehn Menschen, neun davon mit Migrationshintergrund. Niemand hatte eine rechtsextremistische Terrorgruppe in Verdacht.

Wenn das Oberlandesgericht München am Mittwoch nun nach mehr als fünf Jahren Prozess das Urteil gegen Beate Zschäpe und die vier mutmaßlichen Unterstützer des NSU spricht, dann geht ein wesentliches Kapitel deutscher Rechtsgeschichte vorerst zu Ende. Der NSU-Prozess wird sich mit den Nürnberger Prozessen, den Auschwitzprozessen und den RAF-Prozessen in die Riege der bedeutendsten Verfahren der bundesrepublikanischen Geschichte einreihen. In all diesen Prozessen hat Deutschland eine Menge über sich selbst erfahren; all diese Prozesse gewährten tiefe Einblicke in die deutsche Gesellschaft.

Der NSU-Prozess machte den Blick auf eine sehr hässliche Seite frei. Er zeigte, dass Rechtsextremismus nicht bloß ein historisches Phänomen, sondern auch eines der Gegenwart ist. Aber obwohl die Ermittlungsbehörden Rechtsextremismus seit dem NSU verstärkt bekämpfen, ist die rechte Gefahr nicht gebannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte auf der NSU-Gedenkfeier gesagt, so etwas dürfe sich nie wiederholen. Es spricht wenig dafür, dass ihre Aussage zur Wahrheit wird.

Zahlen des noch nicht vorgestellten Verfassungsschutzberichts für 2017 belegen zwar, dass die Zahl rechtsextremer Straftaten erstmals wieder gesunken ist. Allerdings steigt das Rechtsextremismuspotenzial seit 2014 kontinuierlich an. Das Bundesamt für Verfassungsschutz listet in seinem neuen Bericht 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten – 2014 waren es noch 10.500. Die Zahl der Rechtsextremisten insgesamt schätzt der Verfassungsschutz aktuell auf 25.250 (2014: 22.150). Insbesondere die subkulturell geprägte Szene und die des Neonazismus ist gewachsen. Der Verfassungsschutz hält die Zahlen der sinkenden Straftaten daher keinesfalls für eine Entwarnung. Die Gewaltbereitschaft sei hoch, die Szene habe sich weiter radikalisiert, hieß es aus Sicherheitskreisen. Man beobachte das sehr genau.

Matthias Quent, Soziologe und Rechtsextremismusforscher aus Jena, hält die Situation in Bezug auf rechtsextreme Gewalt für „äußerst prekär“. Er zieht eine ernüchternde Bilanz der Zeit seit dem Auffliegen des NSU. „Das Risiko zur Entstehung rechter Terrorgruppen ist heute deutlich höher als vor sieben Jahren“, warnt Quent. Die gewalttätige Neonaziszene habe sogar aus dem NSU-Prozess gelernt, sagt Quent – und sich professionalisiert. In den 90er Jahren habe man die Situation bereits für schlimm gehalten, sagt der Soziologe, heute seien die Strukturen der Rechtsextremisten aber deutlich ausgefeilter. Wenn in den 90ern etwa noch 1000 Leute zu rechtsradikalen Musikkonzerten gekommen sind, seien es heute 6000.

Zur Radikalisierung der rechten Szene hat offenbar auch die AfD beigetragen. „Die flüchtlingsfeindlichen Diskussionen in der Mitte der Gesellschaft sind Wasser auf die Mühlen der Neonazis“, sagt Matthias Quent. Weil sich die bürgerliche Schicht radikalisiert habe, hätten sich die gewaltbereiten Rechtsextremisten auch weiter radikalisiert, um sich davon abzugrenzen, so der Forscher.

Sowohl der Verfassungsschutz als auch Quent glauben, dass harte Gerichtsurteile die Rechtsextremisten abschrecken könnten. Die langen Haftstrafen für die rechtsextreme „Gruppe Freital“ etwa, die mehrfach Flüchtlinge und deren Unterkünfte angegriffen hatten, könnten sich durchaus auf die Szene auswirken.

 Am 25. April 2007 wurde auf diesem Parkplatz in Heilbronn die 22-jährige aus Thüringen stammende Polizistin Michèle Kiesewetter mutmaßlich vom NSU erschossen. Ihr Kollege, der gleichfalls niedergeschossen wurde, überlebte schwer verletzt. Regina Schmeken hat die Tatorte des NSU fotografiert und einen Bildband im Hatje Cantz Verlag (35 Euro) herausgegeben.  

Am 25. April 2007 wurde auf diesem Parkplatz in Heilbronn die 22-jährige aus Thüringen stammende Polizistin Michèle Kiesewetter mutmaßlich vom NSU erschossen. Ihr Kollege, der gleichfalls niedergeschossen wurde, überlebte schwer verletzt. Regina Schmeken hat die Tatorte des NSU fotografiert und einen Bildband im Hatje Cantz Verlag (35 Euro) herausgegeben.  

Foto: dpa

Das Oberlandesgericht München könnte nun ebenfalls lange Haftstrafen verhängen und damit gewissermaßen auch dem aufstrebenden Rechtsextremismus Grenzen aufzeigen. Allerdings muss es dazu die individuelle Schuld der fünf NSU-Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger G., André E. und Carsten S. feststellen. Dann könnte das gelingen.

(her)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort