SPD Tiefes Misstrauen zwischen Gabriel und Partei

Berlin · Das schlechte Abschneiden beim Parteitag hängt dem SPD-Chef nach. Jetzt rudert er zurück. Zweifel an seiner Kanzlerkandidatur wachsen.

 In der Kritik: Sigmar Gabriel.

In der Kritik: Sigmar Gabriel.

Foto: dpa, nie hpl

Sigmar Gabriel fährt an diesem grau-warmen Wintertag als Wirtschaftsminister bei der Berliner Metallinnung vor. Alter Backsteinbau, gepflasterter Hof, viele Pfützen. Das Handwerk, bis hoch zum Verbandspräsidenten, will ihm berichten, was die Betriebe hier und in ganz Deutschland für die Integration von Flüchtlingen tun. Gabriel kommt etwas zu spät, besucht eine Werkstatt, in der Flüchtlinge arbeiten, redet länger als eine Stunde mit den jungen Männern, mit Unternehmern und Verbandsfunktionären. Er wirkt ruhig, gefasst, routiniert in den typischen Ministerfragen zu Zahlen, Daten, Fakten, die er den aufgeregten Gastgebern stellt.

Aber wenige Kilometer Luftlinie entfernt brodelt es in den Büros der SPD-Abgeordneten und im Willy-Brandt-Haus. Einziges Thema: die Nachwehen vom Bundesparteitag vor einer Woche, als Gabriel mit einem desaströsen Ergebnis von nur 74,3 Prozent der Delegiertenstimmen erneut zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Es war eine Klatsche, das deuten auch Gabriels Unterstützer nicht anders.

Zwar war dieses Abstrafen nicht als Kampagne einzelner Parteiflügel oder Landesverbände organisiert, so viel weiß man mittlerweile. Aber viele Delegierte hätten sich schon vor dem Parteitag in den Kopf gesetzt, Gabriel einen Denkzettel zu verpassen, heißt es einhellig aus der SPD - zum Beispiel, weil er das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP befürworte, die bei vielen Genossen verhasste Vorratsdatenspeicherung durchboxte und nebenbei Justizminister Heiko Maas düpierte oder weil er bei der Frage nach dem Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone einen Schlingerkurs hinlegte. Obendrein haben viele Sozialdemokraten schon lange ein Problem mit Gabriels Führungsstil, der im Vorstand eines Landesverbandes als "sprunghaft, von oben herab und verachtend" beschrieben wird.

Jetzt hängt Gabriel dieses Ergebnis nach. Er muss den Schaden begrenzen, zurückrudern, ohne schwach zu wirken - allein schon, um keinen Schaden im harten rheinland-pfälzischen Wahlkampf anzurichten. Das ist trotz seines routinierten Auftretens auch beim Ortstermin im Berliner Industrieviertel zu spüren. Etwa, als er von sich aus Journalistenfragen auf die Fraktionssitzung vom vergangenen Dienstag lenkt. Da musste er Kritik für seine Ankündigung einstecken, die SPD-Basis bei einer möglichen Ausweitung des Syrien-Mandats zu befragen. Das hatte Gabriel den Delegierten in seiner Parteitagsrede vollmundig und überraschend versprochen.

Abgeordnete seien bei solchen Abstimmungen aber nur ihrem Gewissen unterstellt und nicht irgendwelchen Mehrheitsbeschlüssen der SPD-Mitglieder, betonte etwa die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Christine Lambrecht. Gabriels Vorschlag kam als Bumerang zurückgeflogen; wieder müssen die Genossen ihm nun eine Brücke bauen. Und so wiederholte Gabriel die neue Sprachregelung beim Termin mit den Flüchtlingen vor laufenden Kameras, ein Mitgliedervotum könne nur festlegen, wie sich die SPD in der Koalition verhält, eine Beschränkung des Abstimmungsrechts der Abgeordneten sei die Befragung aber nicht.

Doch wie geht es jetzt weiter mit ihm? Ist er mit nur 74 Prozent Rückhalt als Parteichef noch handlungs- und durchgriffsfähig? Gabriels Jünger im Bundestag betonen, dass ihm am Dienstag von der Fraktion der Rücken gestärkt worden sei. Fraktionschef Thomas Oppermann habe von einem unfairen Ergebnis gesprochen, das Gabriel nicht verdient habe. Gabriel wiederum soll das zurückgewiesen haben - es sei ein Ergebnis, mit dem er nun arbeiten müsse. Und überhaupt seien knapp drei Viertel an Zustimmung für Gabriels Kurs doch völlig in Ordnung, hieß es aus seinem Lager.

Das hätten aber weder Gabriel noch seine Befürworter verstanden, sagen andere Genossen. Sie deuten das schlechte Ergebnis für Gabriel als Kritik am Führungsstil und nicht so sehr an den Leitplanken, die er für die SPD in seiner Rede gezogen hat. Sicher, der linke Flügel sei unglücklich über den wirtschaftsfreundlichen Schwenk zur "Arbeitnehmermitte". Aber viel schwerer wiege das tiefe Misstrauen der SPD gegenüber dem Vorsitzenden und andersherum. Selbst im Vorstand wisse man nicht, in welche Richtung Gabriel als nächstes steuert. Auch Gabriel selbst traue nur wenigen Genossen. Und das überraschend miese Ergebnis beim Parteitag - zu einer Zeit, als die SPD einen Elfmeter ohne Torwart gegen die Union hätte verwandeln können - werde das Misstrauen verstärken, ist sich mancher Genosse sicher.

"Ich halte es für möglich, dass Sigmar in der Weihnachtspause über einen Rücktritt von der Kanzlerkandidatur nachdenkt", sagt ein Abgeordneter. Dann sei er aber als Parteivorsitzender nicht länger tragbar. Diese Meinung ist derzeit nicht mehrheitsfähig in der Partei. Dennoch: In Berlin kursieren schon Szenarien für die Zeit nach einem möglichen Rücktritt Gabriels. Dann könnten, so unken Beobachter, Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz den Parteivorsitz und EU-Parlamentschef Martin Schulz die Kanzlerkandidatur der SPD übernehmen.

(jd)
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