Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow „Ich wünsche mir eine neue Nationalhymne“

Berlin · 30 Jahre nach dem Mauerfall sollte sich Deutschland nach Ansicht von Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow für eine neue Nationalhymne entscheiden. Im Interview erklärt er, warum. Außerdem nimmt er den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in Schutz.

 Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow

Foto: dpa/Michael Reichel

Herr Ramelow, wie gefällt Ihnen die Sozialismus-These von Juso-Chef Kevin Kühnert?

Ramelow Was ist eigentlich in unserem Land los, wenn derart hysterisch auf einen Jungsozialisten reagiert wird, der über den demokratischen Sozialismus spricht, der im Übrigen nie aus dem SPD-Grundsatzprogramm gestrichen wurde? Wenn IG Metall-Betriebsräte sich zu Wort melden, die nicht wissen, dass dies auch in den Grundsatzpositionen der IGM enthalten ist? Herr Kühnert hat nun nicht angekündigt, dass jede Eisdiele verstaatlicht werden soll. Ich verstehe sein Plädoyer so, dass wir über Eigentumsfragen in der sozialen Marktwirtschaft reden müssen. Und das ist dringend notwendig. Denn darin steckt das Wort sozial. Wenn ich das aus dem Blick verliere, werden sich zahlreiche Arbeitnehmer krank, arm oder kaputt arbeiten.

Inwiefern?

Ramelow Die bisherigen Modelle der Altersvorsorge funktionieren oftmals nicht mehr. Weder bei Handwerkern, Ärzten noch bei Journalisten. Wir haben ein Problem, über das wir nicht reden. Ich finde nicht alles gut oder richtig, was der junge Mann sagt – auch nicht den Wunsch der Verstaatlichung von BMW. Die Autokonzerne müssen vernünftige Geschäftsmodelle entwickeln - was sie nicht tun. Wir müssen aber über eine sich dramatisch verändernde Produktionswelt sprechen. Und Wohnungen darf man nicht handeln wie Butter und mit Krankenhäusern darf man keine Börsengeschäfte machen. Lasst uns mit Unternehmern ernsthaft über soziale Marktwirtschaft reden und nicht Herrn Kühnert unterstellen, er wolle eine DDR 4.0.

Formiert sich in Deutschland gerade eine neue Linke, etwa durch eine mögliche Regierungsbeteiligung in Bremen nach der Bürgerschaftswahl am 26. Mai?

Ramelow Es ist Bewegung drin. Die Linke in Bremen mit ihrer erdverbundenen Spitzenkandidatin Fraktionschefin Kristina Vogt macht seit Jahren eine sehr handfeste Politik und ist laut Umfragen derzeit zweistellig. Das würde für eine rot-rot-grüne Mehrheit deutlich reichen. Das wäre schon was Neues: Die rot-rot-grüne Regierung in Berlin und die Regierung unter meiner Führung in Thüringen wären keine Ausnahmen mehr, sondern wir hätten erstmals auch ein klassisch sozialdemokratisches Land im Westen, das von SPD, Grünen und Linken regiert werden würde.

Ist die SPD in Bremen bereit, mit Ihnen zu koalieren?

Ramelow Wir sind jedenfalls kein Schreckgespenst mehr. Akteure in Bremen können sich eine Regierungsbeteiligung der Linken vorstellen. Diese Entwicklung zur Normalität ist das eigentlich Spannende. Das wäre noch vor zehn Jahren völlig undenkbar gewesen. Rot-Rot-Grün ist eine ernsthafte Option in Bremen. Damit würde sich auch im Bundesrat eine andere Perspektive ergeben.

Erhöht sich durch den Rückzug von Sahra Wagenknecht von der Bundestagsfraktionsspitze der Linken die Chance, mit SPD und Grünen auf Bundesebene zu koalieren?

Ramelow Frau Wagenknecht war dafür nie ein Hemmnis. Die Hürden lagen woanders. Die SPD hat nie ernsthaft den Versuch unternommen, eine solche Mehrheit im Bund anzustreben. Das ist an mangelndem Mut gescheitert und nicht an der Linken. Und die Grünen sind zur Regierungsbildung inzwischen nicht mehr angewiesen auf den Gnadenakt einer anderen Partei. Entscheidend ist, ob wir alltagstaugliche Politik machen und miteinander arbeiten können. Wenn das passt, kann ich mir auch eine grün-rot-rote Konstellation im Bund vorstellen. Es wäre die Frage an die SPD, ob sie einen Grünen-Kanzler akzeptieren würde. Die Herausforderung besteht darin, zwischen den Koalitionspartnern einen Politikstil auf Augenhöhe zu etablieren. Das praktizieren wir in Thüringen seit Jahren.

Auf der Bundesebene kommen die Differenzen in den außen- und verteidigungspolitischen Fragen dazu. Wird die Linke ihre Haltung zur Nato und den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ändern?

Ramelow Die drei Parteien müssen zum einen in einem offenen transparenten Diskurs sauber ausloten, was sie sie trennt. Wie ist unser Blick auf die Türkei und deren Militäreinsatz in Syrien. Wie auf unseren größten Nato-Partner Amerika mit seinem gefährlichen Präsidenten? Da kommen wir nicht drum herum.

Also braucht die Linke eine rot-rot-grüne Arbeitsgruppe zur Außen- und Verteidigungspolitik?

Ramelow Das würde mich freuen. Und sie sollte so transparent sein, dass die Bevölkerung daran teilhaben kann. Die strittigen Themen kann man nur einer Lösung zuführen, indem man sie offen auf den Tisch legt. In Thüringen war das der Verfassungsschutz, der nach Ansicht meiner Partei nach dem NSU-Skandal hätte aufgelöst werden müssen. Die SPD war dagegen. Geeinigt haben wir uns auf eine völlig neue, kontrollierbare Personalstruktur mit Vetorecht des Ministerpräsidenten beim Einsatz von verdeckten Ermittlern.

Der brandenburgische CDU-Vorsitzende Ingo Senftleben schließt nach der Landtagswahl im September eine Koalition mit der Linken nicht aus. Für die CDU wäre das ein Tabubruch – und für Sie?

Ramelow Wir sollten nicht alles für möglich erklären und damit den Eindruck verstärken, es ginge uns in erster Linie darum an der Macht zu bleiben oder an die Macht zu kommen. Ich halte das für hochproblematisch. Das wäre eine ganz schwere Belastung der gesellschaftlichen Debatte und Wasser auf die Mühlen der AfD. Beliebigkeit darf nicht die Antwort sein. Es muss Unterschiede geben und die Union muss eine andere Klientel abbilden als wir. Ich denke, die Aufgabe von CDU und CSU besteht darin, das bürgerliche und das konservative Lager zu bündeln. Wir dürfen das nicht vermengen. Und das heißt nicht, dass ich ein Problem mit einer CDU-Regierung habe. Ich habe einen guten Draht zum hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Da besorgt mich vielmehr seine Krebserkrankung.

Verändert die Krebserkrankung von Mike Mohring den Wahlkampf in Thüringen?

Ramelow Mein Sohn hat Leukämie gehabt. Meine Mutter ist an Krebs gestorben. Ich habe das alles erlebt. Ich habe Herrn Mohring in den Arm genommen, ihm viel Kraft gewünscht und einen Schutzengel und einen persönlichen Brief geschickt. Das ist eine menschliche Dimension. Dessen ungeachtet vertritt er parteipolitisch natürlich völlig andere Positionen als ich. Mir ist wichtig: Mike Mohring und ich bekämpfen uns nicht als Menschen, sondern als Vertreter unterschiedlicher Gesellschaftskonzepte. Wenn die nicht mehr erkennbar sind, können sich die Wähler nicht mehr orientieren.

Eine Bilanz zu 30 Jahre Mauerfall: Welche Errungenschaften der DDR wurden Ihrer Ansicht nach vom Westen zerstört und fehlen jetzt?

Ramelow Das beginnt schon bei der Nationalhymne. Die verfassungsgebende Runde Tisch der DDR hatte vorgeschlagen, auf beide bestehenden Hymnen zu verzichten und gemeinsam eine neue zu wählen – nämlich die Kinderhymne von Brecht. Das wurde abgelehnt. Jetzt diskutieren wir darüber, ob Björn Höcke von der Thüringer AfD die erste Strophe unserer Hymne mitgesungen hat oder nicht, in der es um den von den Nazis missbrauchten Text geht, den Hoffmann von Fallersleben 1841 geschrieben hat. Ich singe die dritte Strophe unserer Nationalhymne mit, aber ich kann das Bild der Naziaufmärsche von 1933 bis 1945 nicht ausblenden. Viele Ostdeutsche singen die Hymne aber nicht mit und ich würde mir wünschen, dass wir eine wirklich gemeinsame Nationalhymne hätten. Bisher hat dieser Wunsch leider immer nur für empörte Aufregung gesorgt.

Würde sich ein neuer Anlauf lohnen?

Ramelow Vielleicht gibt es etwas ganz Neues, einen neuen Text, der so eingängig ist, dass sich alle damit identifizieren können und sagen: Das ist meins.

Was hätten Sie noch gerne aus der DDR bewahrt?

Ramelow Das längere gemeinsame Lernen. Das fördert soziales Verhalten. Thüringen hat übrigens als einziges Bundesland noch das Fach „Schulgarten“. Da geht es auch darum, dass sich die Kinder eigenverantwortlich darum kümmern, dass die Pflanzen, die sie gesetzt haben, im Sommer auch während der Schulferien gegossen werden. Wenn wir in der digitalisierten und beschleunigten Welt die soziale Kompetenz nicht stärken, werden wir uns noch schwer wundern. Wir schaffen dann auf den Einsatz von Ellenbogen trainierte Leute, die als Vorgesetzte in den Firmen zum Problem werden, weil sie so etwas wie Rücksicht und Einfühlungsvermögen nie gelernt haben. Wenn wir demgegenüber eine andere, sozialerer Entwicklung unserer Schüler wünschen - das Schulsystem in der DDR minus Margot Honecker und dem ganzen ideologischen Brimborium böte dafür durchaus einiges an Potenzial.

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