Hartz-IV-Reform SPD-Sozialstaatspläne kosten Milliarden

Berlin · Die SPD-Pläne zur Überwindung von Hartz IV und die Grundrente könnten den Staat hohe zweistellige Milliardensummen im Jahr kosten. Über die Finanzierung macht sich die Partei wenig Gedanken, dabei klafft jetzt schon ein 25-Milliarden-Loch. Eine Analyse.

 SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles am Dienstag bei der Eröffnung der Fraktionssitzung. Rechts: Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider.

SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles am Dienstag bei der Eröffnung der Fraktionssitzung. Rechts: Parlamentsgeschäftsführer Carsten Schneider.

Foto: dpa/Carsten Koall

Die SPD-Vorsitzende wirkte lange nicht mehr so gelöst wie in diesen Tagen und ihre politischen Gegner lange nicht mehr so bissig. „Wir können mit Fug und Recht sagen: Wir lassen Hartz IV hinter uns und ersetzen es nicht nur dem Namen nach“, freute sich SPD-Chefin Andrea Nahles, nachdem ihr Parteivorstand das neue „Sozialstaatspapier 2025“ einstimmig beschlossen hatte. Die „Hartz-IV-Traumabewältigung der SPD“ sei keine Arbeitsgrundlage für die schwarz-rote Koalition, wetterte daraufhin am Dienstag CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. „Der eine oder andere scheint vom linken Affen gebissen zu sein.“

Fest steht seit dem Sonntag: Die SPD hat mit weitgehenden Vorschlägen zum Ausbau des Sozialstaats den Wahlkampf 2019 eröffnet. Schon Ende Mai muss sie bei der Europawahl und der Landtagswahl in Bremen zeigen, dass sie dem Abstieg von der Volkspartei zur 15-Prozent-Randpartei etwas entgegenzusetzen weiß. Und fest steht auch: Sollte die SPD in künftigen Jahren auch nur Teile ihres neuen Programms in die Tat umsetzen können, wird es für Steuer- und Beitragszahler teuer. Nach einer ersten groben Schätzung könnten die SPD-Pläne zum Sozialstaat und zur Grundrente jährliche Mehrausgaben von rund 40 Milliarden Euro auslösen. Über die Finanzierbarkeit hat sich die Partei wenig Gedanken gemacht, Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hält sie aber für machbar, wenn die Politik nur die richtigen Prioritäten setze. Und Generalsekretär Lars Klingbeil deutete schon mal an, woher die Partei das Geld nehmen will: von den Vermögenden und Gutverdienenden, die unter einer SPD-Regierung mit höheren Steuern rechnen müssten.

Die mit Abstand höchsten Mehrausgaben entfielen auf die Kindergrundsicherung, die neben der SPD auch die Grünen propagieren. Sie soll das bestehende System aus Kindergeld und Kinderfreibeträgen ersetzen sowie Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herausnehmen. Profitieren würden davon vor allem Hartz-IV-Haushalte, denn bisher wird das Kindergeld auf die monatliche Leistung angerechnet. Im neuen SPD-System bliebe die Kindergrundsicherung aber komplett in der Familie. Für jedes Kind gäbe es künftig die gleiche Leistung, die sich aus dem Existenzminimum für Kinder von 408 Euro monatlich plus einem Betrag für die kindliche Entwicklung addierte, zusammen ergäbe sich ein Betrag pro Kind von mindestens 600 Euro. Im Gegenzug würden Kindergeld und andere bestehende Leistungen gestrichen, doch unter dem Strich ergäben sich Mehrkosten von über 30 Milliarden Euro jährlich, wie aus einer Studie der Verteilungsforscherin Irene Becker hervorging.

Auch die neue Grundrente in der SPD-Variante wäre kostspielig: Die Renten für zunächst etwa vier Millionen Ältere mit geringen Rentenansprüchen, die mindestens 35 Beitragsjahre nachweisen können, will Sozialminister Hubertus Heil (SPD) um bis zu 447 Euro pro Monat aufstocken. Heil hat die fiskalischen Kosten mit fünf bis sechs Milliarden Euro pro Jahr beziffert, doch der Freiburger Rentenexperte Bernd Raffelhüschen rechnet mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Da der Minister die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung einführen wolle, sei der Empfängerkreis um mehr als das Zehnfache höher als mit einer Bedürftigkeitsprüfung, so Raffelhüschen. Würden nur Bedürftige die Grundrente erhalten, kämen nur rund 300.000 Bezieher in den Genuss. Die SPD will die im Koalitionsvertrag schon vereinbarte Grundrente im Koalitionsausschuss der Partei- und Fraktionsspitzen am Mittwochabend zur Sprache bringen, doch die Union lehnt eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung strikt ab.

Die eigentliche Abkehr von Hartz IV plant die SPD mit ihrem „Bürgergeld“, das den ungeliebten Begriff ersetzen soll. Ältere Arbeitslose ab 58 Jahren sollen das Arbeitslosengeld I statt 24 bis zu 33 Monate lang beziehen können, anschließend sollen sie nach dem Übergang ins Arbeitslosengeld II weitere zwei Jahre keine Vermögens- und Wohnungsprüfung über sich ergehen lassen müssen. Zudem will die SPD die Hartz-IV-Sanktionen lockern und mit einem „Arbeitslosengeld Q“ das Anrecht auf Weiterbildung deutlich ausbauen. Alle arbeitsmarktpolitische Programmpunkte zusammen dürften weitere zwei Milliarden Euro im Jahr kosten.

Die fehlende Finanzierung des Programms ist für die Union ein gefundenes Fressen. „Nachdem Bundesfinanzminister Scholz das SPD-Programm in der Öffentlichkeit als realisierbar und finanzierbar dargestellt hat, hat er die Bringschuld das Paket finanziell zu untersetzen“, sagt Unions-Chefhaushälter Eckhardt Rehberg. Sein Counterpart von der SPD, Johannes Kahrs, kann allerdings gut kontern: „Unser Sozialstaatsprogramm kostet ein Bruchteil dessen, was die Union an Mehrausgaben plant.“ Denn die Union wolle die Verteidigungsausgaben um bis zu 40 Milliarden Euro im Jahr hochfahren, die Firmensteuern senken und den Soli für alle abschaffen. Auch die Union habe kein Finanzierungskonzept. Dabei zeichnet sich schon ohne alle Blütenträume bis 2022 im Bundeshaushalt ein 25-Milliarden-Euro-Loch ab. „Die Volksparteien sind noch immer im alten Wünsch-Dir-Was-Modus. Dabei wissen sie genau, dass sie das Geld für ihre Pläne gar nicht haben. Das ist klassische Wählertäuschung vor den anstehenden Wahlen“, sagt FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke.

In der SPD-Fraktion schert diese Tatsache am Dienstagnachmittag kaum jemand. Es gibt viel Lob für Andrea Nahles und ihre Truppe. Die Umfragen dokumentieren leichten Aufwind, endlich scheint für die Sozialdemokraten mal wieder die Sonne. Frühlingsgefühle kommen auf, so beschreibt es ein Abgeordneter.

Übertreiben will man es mit der Euphorie aber auch nicht. Schließlich sind die Beschlüsse mit der Union kaum umsetzbar. Mancher Genosse hält deswegen Äußerungen von Nahles für schwierig, wonach es jetzt nur um Parteipositionen und nicht um einen Koalitionsbruch gehe. „Wir brauchen den Hebel eines möglichen Endes der Koalition, sonst bleiben unsere Vorschläge zahnlose Papiertiger“, sagt ein einflussreicher Genosse.

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