Zwei Bundesminister auf Bildungsreise Was Deutschland von Kanada in Sachen Einwanderungspolitik lernen kann

Berlin · Arbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser haben am Sonntag eine Erkundungstour durch Kanada gestartet, um Anregungen die deutsche Einwanderungspolitik zu sammeln. Soll auch Deutschland bei Fachkräften künftig mit Punkten punkten?

Wieder gemeinsam unterwegs: Hubertus Heil und Nancy Faeser im Sommer letzten Jahres in einem Flugzeug der Flugbereitschaft.

Wieder gemeinsam unterwegs: Hubertus Heil und Nancy Faeser im Sommer letzten Jahres in einem Flugzeug der Flugbereitschaft.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Es fehlen Fachkräfte, um die Wirtschaft in Schuss zu halten, die Sozialsysteme finanzieren und wettbewerbsfähig bleiben zu können. Das ist nicht nur der aktuelle Befund für Deutschland, das war auch die Beschreibung der Situation in Kanada vor sechs Jahrzehnten. In Nordamerika stellte die Politik daraufhin die Einwanderungspolitik um. Hin zum Können, weg vom Herkommen. Es entstand ein Punktesystem, das zwar mehrfach überarbeitet wurde, aber immer noch dem Grundprinzip folgt, diejenigen ins Land zu holen, die die beste Qualifikation für aktuelle Mangelberufe mitbringen. Seit Sonntag schauen sich zwei Bundesminister und sieben Abgeordnete genauer an, was sich daraus für Deutschland lernen lässt.

Arbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser unternehmen die Informationstour, weil sie in Kürze eine Novelle zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorlegen wollen. Bereits seit einem Jahrzehnt liebäugeln die Sozialdemokraten mit der Idee, jedem Einreisewilligen eine individuelle Beurteilung zu geben, in der Ausbildung, Qualifikation und Berufserfahrung genauso berücksichtigt werden wie Sprachkenntnisse, branchenspezifische Situation und nachweisbares Interesse heimischer Arbeitgeber. In Kanada lassen sich auf diese Weise hundert Punkte sammeln. Aktuell bekommen Einreisebewerber mit 67 Zählern eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis.

Jahr für Jahr nimmt Kanada mit diesem System rund 450.000 qualifizierte Ausländer bei sich auf. Angesichts der Entwicklungen auf dem kanadischen Arbeitsmarkt ist das Ziel kürzlich auf 500.000 Menschen erweitert worden. Doch nicht jeder findet auch einen Job in seinem Wunschberuf. Es wird berichtet, dass manche Akademiker auch als Taxifahrer arbeiten, um über die Runden zu kommen. Nach aktuellen Statistiken kehrt jeder fünfte wirtschaftliche Immigrant dem Land vorzeitig wieder den Rücken.

Deutschland hatte zwar zum selben Zeitpunkt wie Kanada verstärkt begonnen, um ausländische Arbeiter zu werben. So entstanden Anwerbeabkommen unter anderem mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968). Sie waren jedoch eher pauschal auf den Arbeitsmarkt bezogen und gingen davon aus, dass die „Gastarbeiter“ nur eine kurze Zeit in Deutschland arbeiten, das Geld nach Hause schicken und dann zu ihren Familien zurückkehren würden. Stattdessen blieben viele auf Dauer und holten ihre Familien nach. Die Abkommen endeten in der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre, als die sozialliberale Regierung einen Anwerbestopp beschloss. Erst die rot-grüne Regierung versuchte Anfang des neuen Jahrtausends mit Greencard-Regeln den wachsenden Bedarf an IT-Fachkräften zu decken. Zwei Jahrzehnte später verständigte sich Schwarz-Rot auf ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz.

Anders als in Kanada ist die Migration in Deutschland stark von Fluchtmotiven geprägt. Jeder Einreisewillige muss nachweisen, dass er in seiner Heimat verfolgt wird, um Schutz zu finden und ein vorübergehendes Bleiberecht zu erhalten. Wer allein aus wirtschaftlichen Motiven in die EU strebt, wird in der Folge dieser Asyl-Fixierung vielfach als unerwünscht angesehen und soll so bald wie möglich in sein Herkunftsland zurückkehren. In ihrem Koalitionsvertrag verständigten sich SPD, Grüne und FDP auf einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“. Sie wollen einen „Paradigmenwechsel“, den sie mit der Absicht verbinden: „Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen.“

Vor diesem Hintergrund sind die Bundesminister und eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten aus dem Innenausschuss in Kanada unterwegs. Es gehe um Migration, insbesondere Fachkräfteeinwanderung, und um das Gelingen des Zusammenlebens in Vielfalt, erläuterte die Delegation des Parlamentes unter Leitung des Vizevorsitzenden Lars Castellucci. Aus der Sicht von Heil zeigt Kanada, „wie erfolgreiche Einwanderungspolitik ein Gewinn für Gesellschaft, Wirtschaft und Zugewanderte sein kann“. Und für Faeser ist Kanada „ein Vorbild, von dem wir lernen wollen“. Geplant sind Termine mit den Verantwortlichen der Regierung, mit der Einwanderungsbehörde, einer Serviceagentur für Zugewanderte und mit Unternehmen.

  Arbeitsminister Hubertus Heil beim Abflug nach Kanada.

Arbeitsminister Hubertus Heil beim Abflug nach Kanada.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe ist vom Gelingen eines Punktesystems in Deutschland nicht überzeugt. Denn das funktioniere nur bei einem Überangebot an qualifizierten Zuwanderungswilligen. „Wir müssen attraktiver werden“, sagte Gröhe unserer Redaktion. Es müsse in Deutschland ein Klima geschaffen werden, in dem „diejenigen, die uns brauchen, und diejenigen, die wir brauchen, sich willkommen fühlen“. Dazu trügen „Bildungsreisen nach Kanada“ erst einmal nicht bei. Union und SPD hätten das Fachkräfteeinwanderungsrecht bereits modernisiert. Doch wegen unzureichender Kapazitäten stapelten sich derzeit Tausende von Anträgen. Bei der Visa-Ausstellung und bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen kämen die deutschen Behörden nicht nach. Dafür müsse eine komplett digitalisierte Behörde geschaffen werden.

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