Zahl deutlich gesunken Weniger als die Hälfte der Deutschen arbeitet nach Tarif

Berlin · Nur noch 47 Prozent aller Beschäftigten arbeiten laut der Bundesregierung in tarifgebundenen Betrieben. Nur noch ein Viertel aller Firmen sieht sich an einen Tarifvertrag gebunden. Und mehr als zwei Fünftel der Unternehmen haben weder einen Tarifvertrag noch einen Betriebsrat.

 Warnstreik der Berliner Erzieher: In Gewerkschaften organisierte Beschäftigte haben mehr Verhandlungsmacht (Archiv).

Warnstreik der Berliner Erzieher: In Gewerkschaften organisierte Beschäftigte haben mehr Verhandlungsmacht (Archiv).

Foto: dpa/Britta Pedersen

Der Anteil der Beschäftigten in deutschen Unternehmen, die noch an einen Branchentarifvertrag gebunden sind, ist in den zehn Jahren zwischen 2008 und 2017 um sechs Prozentpunkte auf nur noch 47 Prozent aller Beschäftigten gesunken. Zugleich ging der Anteil der tarifgebundenen Betriebe an allen Unternehmen um sieben Prozentpunkte auf nur noch 25 Prozent oder ein Viertel zurück. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion hervor.

Demnach nahm der Anteil der nicht-tarifgebundenen Unternehmen bei kleinen Betrieben besonders stark ab. Nicht an einen Tarifvertrag gebunden sahen sich im vergangenen Jahr 87 Prozent aller Firmen mit bis zu neun Mitarbeitern in Ostdeutschland und 78 Prozent in Westdeutschland. Zehn Jahre zuvor hatten sich erst 69 Prozent der kleineren westdeutschen und 80 Prozent der kleineren ostdeutschen Betriebe von Tarifverträgen verabschiedet.

Die Regierung stützt sich in ihrer Antwort auf Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA), die dafür seit 1996 jährlich 15.500 repräsentativ ausgewählte Betriebe befragt. Den Daten zufolge war die Tarifbindung der Unternehmen schon bis Mitte der 2000-er Jahre stark rückläufig, blieb dann aber bis 2010 annähernd stabil, um in den Jahren danach wieder deutlich abzunehmen. Aus Sicht der Mitarbeiter ist die zunehmende Tarifflucht negativ: Beschäftigte in nicht-tarifgebundenen Formen werden oft schlechter bezahlt als Tarifbeschäftigte und erhalten weniger Extras oder eine schlechtere Altersvorsorge. Viele nicht-tarifgebundene Unternehmen orientierten sich allerdings teilweise oder ganz an Branchentarifverträgen, so das IAB.

Die meisten Beschäftigten in Unternehmen ohne Tarifverträge arbeiteten 2017 in den Wirtschaftszweigen Information und Kommunikation, im Handel, im Gastgewerbe sowie anderen Dienstleistungssektoren, heißt es in der Regierungsantwort, Weniger als ein Drittel oder 31 Prozent aller Unternehmen waren demnach im vergangenen Jahr noch tarifgebunden und verfügten gleichzeitig auch über einen Betriebsrat. Rund zwei Fünftel oder 41 Prozent waren umgekehrt 2017 weder tarifgebunden noch hatten sie einen Betriebsrat.

Die Gründe für die fortgesetzte Tarifflucht sind vielfältig. Arbeitgeber versprechen sich davon geringere Personalkosten, weil sie glauben, ihre Verhandlungsmacht gegenüber dem einzelnen Mitarbeiter sei bei Vertragsverhandlungen größer als gegenüber einer mächtigen Gewerkschaft. „In Zeiten eines knapper werdenden Arbeitsangebots könnte sich dies aber als Trugschluss erweisen. Dann steigt die Verhandlungsmacht der Belegschaft“, warnte Gustav Horn. Chef des gewerkschaftseigenen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Viele Unternehmen seien „Trittbrettfahrer“: Sie profitierten von Branchentarifverträgen, die den sozialen Frieden garantieren und die Streikhäufigkeit verringern, ohne sich selbst daran zu halten.

Auch der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die Entstehung großer Digitalkonzerne haben die Tarifflucht begünstigt. Dienstleister wollen sich traditionell weniger an Kollektivverträge binden als Industriebetriebe. Für ertragsschwächere Betriebe, vor allem die kleineren, geben Tarifverträge oft ein zu hohes Lohnniveau vor, insbesondere in Ostdeutschland. Sie traten deshalb aus dem Arbeitgeberverband aus oder blieben Mitglied ohne Tarifbindung.

„Die Zahlen belegen, dass die Tarifflucht von Unternehmen wie dem Einzelhandelskonzern Real nur die Spitze des Eisberges darstellt“, sagte der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linken, Pascal Meiser. „Quer durch ganz Deutschland und unabhängig von der Betriebsgröße unterminieren immer mehr Arbeitgeber das bewährte Tarifvertragssystem.“ Dem dürfe die Regierung nicht tatenlos zusehen. „Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist in der Pflicht, endlich ein Maßnahmenkonzept zur Stärkung der Tarifbindung auf den Tisch zu legen“, sagte Meiser. Tarifverträge müssten auch gegen den Willen der Arbeitgeberverbände für allgemeinverbindlich erklärt werden können und vollumfänglich auch auf aus dem Ausland entsandte Beschäftigte erstreckt werden, forderte er.

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