Tag der deutschen Einheit Liebe Wessis, ...

Cottbus · Heute feiert Deutschland seine Einheit, dabei scheint die Spaltung zwischen Ost und West auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht vollzogen. Auch nicht in den Köpfen. Unsere Autoren – ein Ossi und ein Wessi – haben sich so ihre Gedanken gemacht. Hier lesen Sie den Beitrag des Ossis.

 Peter Blochwitz ist Redakteur bei der Lausitzer Rundschau.

Peter Blochwitz ist Redakteur bei der Lausitzer Rundschau.

Foto: M. Behnke/Lausitzer Rundschau

Heute feiert Deutschland seine Einheit, dabei scheint die Spaltung zwischen Ost und West auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht vollzogen. Auch nicht in den Köpfen. Unsere Autoren — ein Ossi und ein Wessi — haben sich so ihre Gedanken gemacht. Hier lesen Sie den Beitrag des Ossis.

Jawoll, ehrlich, dieses Geheule im Osten kann einem schon das Gruseln beibringen! Wenn die Wolfsrudel durch die Neubau-, äh, Zonenrandgebiete Sachsens und Brandenburgs streifen. Klar, Sibirien ist ja gleich um die Ecke. Das merkt man in der Lausitz, da haben wir auch Ortsschilder, die untertitelt sind mit einer slawischen Sprache...

Spaß beiseite. Wir Ossis und Ihr Wessis, wir fühlen uns unwohl miteinander, verstehen uns nicht. Von Anfang an nicht. Hier, im Osten, sind Leute auf die Straße gegangen und haben die Diktatur der Partei, die immer recht hatte, zum Einsturz gebracht. Bekommen haben sie die Diktatur des Geldes, das immer recht hat. Die Diktatur der Wessis, die immer recht haben. Das ist das Grundgefühl von uns Ossis seit 1990.

Ein persönliches Erlebnis nach der Wende: Eine Kollegin war aus dem tiefsten Westen hierher in den Busch versetzt worden, trug ihre Ost-Allergie nachgerade zur Schau. Äußerte eines Tages: "Wir haben die Ossis immer an ihren Schuhen erkannt." Antwort einer Ost-Kollegin: "Uns kam es ja auch nie so sehr darauf an, was wir an den Füßen, sondern im Kopf hatten." Verdutztes Schweigen.

Ja, gut, mancher Wessi fragt sich vielleicht angesichts mancher Ost-Mode eher, was die Ost-Tussis auf dem Kopf haben — gefärbte Haarsträhnen beispielsweise. Ist auch nicht mein Geschmack, sie stechen mir allerdings auch nicht ins Auge. Lass sie doch, denke ich, wenn sie meinen, sie könnten sich verbessern. Oder bin ich längst abgestumpft, sehe modische Verfehlungen nicht mehr, habe sie möglicherweise nie erkennen können? Oder verteidige sie wider besseres Wissen? Weil es eben unsere Ossi-Tussis sind?

Zweites Beispiel: Ich war Mitte der 90er Jahre zum ersten Mal in den USA, freute mich sehr, dort wäre ich als DDR-Bürger vor der Rente nie hingekommen. Die Freude wurde kurz getrübt, als ich von westdeutschen Mitreisenden gefragt wurde, wie, um Gottes willen, ich mich mit den Amerikanern verständigen würde? "Russisch", sagte ich. "Wir hatten ja nur Russisch." Verblüffung auf den Rängen. Mit Ironie, so mein Eindruck, habt Ihr Wessis es nicht so sehr. Haben wir im Osten gelernt, Freunde! Zwischen den Zeilen schreiben und lesen, das war hohe Kunst!

Die Vorurteile waren von Anfang an da

Noch ein kleiner Witz gefällig? Der Westchef übernimmt die Ostfirma. Übrigens: Wie viele Ostchefs haben wir im Jahr 2017 im Osten? In Ordnung, eine rhetorische Frage. Der Westchef stellt sich also vor die versammelte Rest-Mannschaft und erklärt: "So, dann werden wir euch erstmals das Arbeiten beibringen!" Die Ost-Mannschaft antwortet unisono: "Das schaffste nich!" Das ist natürlich ein unrealistisches Szenario. Hat's wahrscheinlich nie gegeben. Denn die eigene Meinung wird seit 1990 am Betriebstor abgegeben, so man noch eines passieren darf.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die Vorurteile waren von Anfang an da, sie sind geblieben. Es sind aber auch Erfahrungen. Eine grundlegende Kognition hat der ostdeutsche Liedermacher Gerhard Gundermann, der im Hauptberuf Baggerfahrer im Lausitzer Braunkohlebergbau war, in seinem Song "Krieg" komprimiert:

"Ich hab' jetzt endlich 'ne richtige Arbeit/
und du jemand, der sie dir macht/
wenn das Schiff schlingert, machst du den Finger/
und ich mach den Rücken krumm."

Der Text stammt von 1995. Hat er an Aktualität verloren? Nee.

Kommt der Ossi sich da komisch vor? Sucht er Bestätigung, will sich besser fühlen, braucht Identifikationsfiguren? Zum Beispiel Fußballspieler? Ach ja, Ihr habt hier ziemlich viel plattgemacht, aber Spitzenkicker wie Matthias Sammer, Michael Ballack oder Toni Kroos mit Handkuss genommen.

Die Ostvereine sind nach 1990 ausgeblutet, da wundert Ihr Euch, wenn Energie Cottbus — ja, auch wir waren ein paar Jahre 1. Bundesliga! — mit elf Ausländern, hauptsächlich Osteuropäern, in der Startelf gelaufen ist? Und trotzdem oder gerade deshalb Identifikationssymbol ist?

Die Ossis haben gemerkt, sie können was bewegen, wenn sie aufmucken

Meine heute 80-jährige Mutter, die sich im Leben nicht die Bohne für Fußball interessierte, fragte plötzlich nach, wie denn Energie gespielt hätte. Diese Rolle des Ostvereins, der mitmischen kann, übernimmt heute RB Leipzig.

Ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin Ossi, und frage mich selbst, warum wir Ossis gerne mürrisch, laut, ungehobelt sind. Und vielleicht haben sich diese Eigenschaften sogar noch verstärkt. Hinzu kommt Trotz. Es gibt nicht DIE Ossis, aber bleiben wir jetzt mal bei der Vereinfachung: Die Ossis haben gemerkt, sie können was bewegen, wenn sie aufmucken. Sie haben ein System gestürzt. Jetzt fühlen sich viele Ossis wieder nicht wohl, gehen wieder auf die Straße. Wählen die AfD. Großes Entsetzen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass wir alle nicht zuhören. Gilt übrigens auch für uns Schreiberlinge. Wir reden gern über Politiker, die nicht mehr wissen, wie es den Leuten wirklich geht. Wissen wir Journalisten das denn noch? Hören wir noch? Sehen wir noch? Das wäre wirklich wichtig. Egal, ob in Ost oder West.

Der Ossi: Peter Blochwitz, Jahrgang 1960, ist Redakteur bei der Lausitzer Rundschau, Filmkenner, Kulturkritiker und Kolumnist. Blochwitz lebt in Cottbus (niedersorbisch: Chóœebuz).

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