Abgeordnete als Volksvertreter Machen nur noch Studienabbrecher und Schmalspur-Juristen Politik?

Analyse | Berlin/Düsseldorf · Immer wieder müssen sich Berufspolitiker vorwerfen lassen, „nichts Richtiges“ gelernt oder gearbeitet zu haben. Wie sehen die Biografien der Frauen und Männer in höchsten Ämtern tatsächlich aus? Und wie gut repräsentieren sie die Bevölkerung?

 Das Bundeskabinett vor dem Kanzleramt bei der Klausurtagung Ende Januar.

Das Bundeskabinett vor dem Kanzleramt bei der Klausurtagung Ende Januar.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Fragt man Kinder nach ihrem Berufswunsch und erhält darauf die Antwort, er oder sie wollte gerne später Bundeskanzler(in) werden, sorgt das meistens nur für eines: Erheiterung bei den Erwachsenen. Dabei ist das, was so niedlich wie vermessen klingt, längst Realität: In die Politik gehen ist nicht mehr eine bloße ehrenvolle Aufgabe, die sich rein aus Leidenschaft, Ehrenamt und vor allem aus Zufällen und Gelegenheiten ergibt. Politik machen, Politiker(in) sein ist heute mehr Beruf denn Berufung.

Der erste große Soziologe, der diese Erkenntnis hatte, war Max Weber. In seiner Schrift „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919 nahm er die moderne Entwicklung gewissermaßen vorweg. Der Gelehrte mahnte an, dass die komplexe Aufgabe der Staatsführung nur von solchen Personen übernommen werden kann, die sich professionell damit beschäftigen. Keine leichte Aufgabe, wie der Wissenschaftler befand. Denn im gleichen Aufsatz wird als Berufsethos erkannt, Politik sei „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.

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 Zwar gibt es nach wie vor keinen obligatorischen Werdegang mit Abschluss Berufspolitiker/in, doch immer häufiger sind die Männer und Frauen in den Spitzenämtern deutscher Parteien ohne jeden Berufsabschluss oder -erfahrung. Zuletzt waren es die beiden Neuen an der Parteispitze der Grünen, Ricarda Lang und Omid Nouripour, die sich die Vorwürfe gefallen lassen mussten, karrieretechnisch im Grunde nichts mitzubringen, außer eben den Aufstieg innerhalb der eigenen Partei. Die ausschließliche Konzentration auf die politische Karriere trifft zwar auf viele Abgeordnete zu, bei dem Grünen-Sprecher-Duo kommt es in geballter Form: Beide haben sehr lange und sehr viel studiert – dann aber die Universität ohne Abschluss verlassen. Während der 46-jährige Nouripour, der aus einer bürgerlichen Familie im Iran kommt und in Teheran geboren ist, sich nach eigenen Angaben mit diversen Jobs als Hotel-Aushilfe, Zeitungsausträger, Bücherverkäufer, Küchenhilfe, Kellner und Museumswärter durchschlug, ist über Ricarda Lang (28) zumindest nichts Derartiges bekannt, bis auf ihr jahrelanges parteiinternes Engagement.

Die Kritik also hat zwei Dimensionen: Können Politiker und Politikerinnen den ehrgeizigen äußeren Anforderungen gerecht werden und inhaltlich schwierige Forderungen durchbringen, wenn ihr Durchhaltevermögen nicht einmal für einen Berufsabschluss reichte? Und können die übrigen, zumeist Studierte ohne Berufsjahre, überhaupt im Sinne der Bevölkerung handeln, die Nöte und Bedürfnisse der Menschen verstehen, deren Alltag sie kaum kennen? Nichts geringeres als Vorbilder und Volksvertreter sollen Abgeordnete sein, so jedenfalls die Wunschvorstellung bei einem Gros der Wählerschaft.

Tatsächlich zeigt der Blick auf die Menschen in den wichtigsten politischen Ämtern: Der Großteil der Gewählten sind Berufspolitiker. Allein von den elf Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien (Doppelspitzen eingerechnet), sind drei ganz ohne Studienabschluss und sechs haben wenig bis gar keine Berufserfahrungen gemacht, bevor sie Vollzeit in die Politik gingen. Im Partei- und Fraktionsvorstand der AfD dagegen sind mit Volkswirtin Alice Weidel und Malermeister Tino Chrupalla zwei Menschen, die ihre Berufe für ihre Parteiarbeit zurückgestellt haben und nicht umgekehrt. Aber auch CDU-Chef Friedrich Merz und FDP-Chef Christian Lindner sind Beispiele dafür, dass unternehmerische Tätigkeiten und politischer Erfolg sich nicht ausschließen – natürlich sauber voneinander getrennt.

Aber was sind nun die besseren Volksvertreter? Sind Ehrgeiz und Erfolg in Biografien anderer Berufe mehr wert als eine Karriere innerhalb der Politik? Oder ist eine geschlossene Politikerschicht als Herrschaftselite sogar schädlich für die Vielfalt der Demokratie? Fakt ist: Auf dem Papier müssen Abgeordnete lediglich zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen volljährig sein und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.

Allerdings hat schon der große Soziologe Weber erkannt, dass Quereinsteiger, die relativ spät zur Politik kommen, angesichts der langen Aufstiegswege eher im Nachteil sind. Und weil Karrieren meist gelingen, wenn eine Person die Organisation und ihre Funktionsweise durchschaut hat, bleibt für Außenseiter meist zu wenig Zeit, um wirklich erfolgreich zu sein. Die gerade abgetretene Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist eher als Ausnahme zu betrachten, als sie die Chance der Einheit zu einer ungewöhnlichen Politik-Karriere ergriff. Und sie hatte es gegen die Männer der CDU auch deshalb schwer, weil sie nicht die Ochsentour durch die Partei gemacht hatte.

Betrachtet man die 54 wichtigsten Amtsinhaber auf Bundes- und Landesebene, also den Kanzler, sein Kabinett mit Ressort- und Staatsministern, die Fraktions- und Parteispitzen sowie die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, fällt auf, dass die meisten gelernte Juristen oder Politologen sind. Das sind die Berufe, die anscheinend für eine professionelle Karriere in der Politik am besten vorbereiten. Wer Gesetze macht, sollte ihre Systematik verstehen, wer politisch agiert, die Prinzipien des politischen Systems. Genau die Hälfte aller Spitzenvertreter haben diese berufliche Orientierung.

Die prominentesten Beispiele sind Kanzler Olaf Scholz, ein Fachanwalt für Arbeitsrecht, und die Politologin Annalena Baerbock, die ihr Wissen durch ausländische völkerrechtliche Aufbaustudiengänge erweitert hat. Auch Finanzminister Lindner ist Politologe, hat immerhin mal als selbstständiger Start-up-Unternehmen gearbeitet – und ist gescheitert. An sonstigen Studiengängen spielt allenfalls die Volkswirtschaft noch eine Rolle (sechs Personen), die man aber auch getrost zu den Staatswissenschaften zählen darf. Daneben gibt es noch zwei Mediziner, einige kaufmännische Ausbildungen, zwei Pädagogen und zwei kulturelle Berufe (Dramaturgin und Schriftsteller). Ganze zwei Ingenieure in Seitenbereichen (Wirtschaft und Agrar) sind dabei, ein Physiker. Es fehlen Betriebswirte, Naturwissenschaftler, klassische Ingenieurberufe, erst recht Handwerker oder gar Facharbeiter.

Die politische Klasse hat also eng definierte Aufstiegswege, egal ob von ganz rechts oder ganz links. Und die Spitze der Politik repräsentiert das Volk genauso wenig wie das mittlerweile auf 736 Abgeordnete angewachsene Parlament. Das schafft natürlich Gräben – aber eben auch solche, die zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern oder zwischen Geisteswissenschaftlern und technischen Berufen bestehen. Dass gerade die gefragten Kompetenzen in der Wirtschaft in der Politik so gar keine Rolle spielen, macht diesen Graben noch größer.

Allerdings wäre es vermessen, den so sozialisierten Politikerinnen und Politikern fehlenden Realitätssinn vorzuhalten. Unsere Demokratie sorgt dafür, dass sich die Vertreter in ihren Wahlkreisen dem Volk zeigen, vor Ort aktiv sind und sich den vielen Nöten der Wählerinnen und Wähler annehmen müssen. Auch das erdet. Und wer es ganz nach oben schafft, muss sich trotzdem in die Niederungen von Parteitagen, Wahlversammlungen und Bürgerdialogen begeben, um weiterhin auch unten präsent zu sein. Sonst wird er oder sie auf Dauer sich nicht halten. Es ist also nicht so sehr die Vielfalt der Berufe, Tätigkeiten oder Karrierewege, die entscheidet, sondern die Verbindung zwischen Wähler und Gewählten. Und die ist in der Bundesrepublik mit ihrem System des Ausgleichs und der gegenseitigen Kontrollen gar nicht so schlecht.

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