Analyse Studie entzaubert Hartz IV als Mythos

Berlin · Bislang waren sich Fachwelt und Politik einig, dass Deutschland sein Beschäftigungswunder den Hartz-Reformen der früheren rot-grünen Bundesregierung verdankt. Eine neue Studie sieht eher die Tarifpolitik als Ursache.

13 Fakten zu Hartz IV
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Foto: dpa, Oliver Berg

Sie kostete die SPD die Macht und bescherte Deutschland mehr als drei Millionen neue Jobs: Die Hartz-IV-Reform hat mehr als jede andere Sozialgesetzgebung die Gemüter erhitzt und die ökonomische Diskussion beflügelt. Vor allem galt sie als Hauptursache für das deutsche Beschäftigungswunder und die florierende Ökonomie des Landes. Die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt seit 2005, so schrieben die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem jüngsten Gutachten, ließe sich "insbesondere den Hartz-IV-Reformen zuschreiben".

Jetzt hat "Spiegel Online" eine noch unveröffentlichte Studie präsentiert, die in der kommenden Woche in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift "Journal of Economic Perspectives" erscheint. Dort weisen die Autoren Christian Dustmann, Bernd Fitzenberger, Uta Schönberg und Alexandra Spitz-Oener nach, dass nicht die Hartz-Reformen, sondern die deutsche Tarifautonomie für den jüngsten Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich sei.

Einbrüche durch Finanzkrise

Unbestritten ist, dass Deutschland besser als die meisten Industrieländer durch die große Finanzkrise von 2008 und 2009 gekommen ist. Die dadurch verursachten Einbrüche sind längst wettgemacht. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei rund fünf Prozent. Mehr als die Hälfte seines Bruttoinlandsprodukts exportiert Deutschland in alle Welt. Auch die Wachstumsraten übertreffen die vieler Industriestaaten.

Diese Erfolge, so haben die vier deutschen Wirtschaftswissenschaftler herausgefunden, haben ihren Ursprung in einer einzigartigen Bewährung der Tarifpolitik seit den 90er Jahren. Die maßvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften, aber vor allem die dezentrale Lohnfindung habe die deutsche Wirtschaft fit für die Globalisierung gemacht.

Dabei wirke, so die Autoren, gleich eine Vielzahl von Faktoren, die vor allem die Industrie zum strategischen Spieler bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gekürt haben. Denn obwohl nur knapp 18 Prozent der Beschäftigten dort arbeiten, trägt die Industrie noch immer fast ein Viertel zur deutschen Wertschöpfung bei. Die hohe Produktivität, die sich darin zeigt, rührt von einer radikalen Veränderung der Arbeits- und Produktionsprozesse her. So nahm in keinem anderen Sektor die Lohnspreizung zwischen Top- und Niedrigverdienern so zu wie im verarbeitenden Gewerbe. Zugleich nutzte die deutsche Industrie zielgerichtet Vorlieferungen aus Niedriglohnländern, vor allem aus Ost- und Südosteuropa. Das wiederum wurde nur möglich, weil sich die Gewerkschaften auf Ausgliederung unrentabler Produktionseinheiten einließen. Auch der Einsatz von Leiharbeit und die Zulassung von Billiglöhnen in bestimmten Bereichen haben die Unternehmen in die Lage versetzt, sich auf den Weltmärkten zu behaupten.

In der Folge sind die Lohnstückkosten, das Verhältnis von Arbeitskosten zur Produktivität, in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland stärker gefallen als in allen anderen großen Industrieländern. Wenn der Anteil des Lohnes am produzierten Wert zurückgeht, steigert das die Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten, wenn alle anderen Kostenfaktoren gleich bleiben. Die Exporte zogen aber die übrige Wirtschaft mit, vor allem weil die Zulieferungen aus der Dienstleistungssparte günstig blieben.

Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit

Die Hartz-IV-Gesetze hätten demgegenüber nur die Löhne bei den Geringverdienern verringert. Sie haben zu einer Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit geführt, aber kaum zur besseren Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie beigetragen. "Sie waren nicht wirklich wichtig", schreiben die deutschen Autoren, die derzeit am englischen University College of London unterrichten.

Das Geheimnis des deutschen Aufschwungs liegt nach dieser Studie in den speziellen Verfassung des Arbeitsmarkts hierzulande. In 50 000 Tarifverträgen regeln die Deutschen nicht nur Lohnhöhe, sondern auch Öffnungsklauseln, Arbeitsstunden, Anpassungen an die Auftragslage. Das sei viel zielgerichteter und branchenfreundlicher als die eher rigiden Arbeitsmarktgesetze in anderen Ländern. Das Wichtigste, so heißt es in der Studie, sei aber die Staatsferne der deutschen Tarifautonomie. Arbeitgeber und Gewerkschaften lösten ihre Probleme selbst — dezentral, effektiv, ohne Streiks und mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche und betriebliche Entwicklung.

Ein feines Gleichgewicht zwischen der Lohnfindung durch die Tarifpartner und der Umsetzung durch Betriebsräte würde einseitige Machtstellungen in diesem Prozess verhindern. Zugleich mussten sich die Gewerkschaften der Globalisierung stärker anpassen, weil die Zahl der Beschäftigten, die tariflich gebunden sind, in Westdeutschland von 85 auf 65 Prozent abnahm. In Ostdeutschland ist nur noch jeder dritte Arbeitnehmer tariflich gebunden. Das steigert den Wettbewerbsdruck innerhalb der Belegschaften. Zugleich gliederten die Unternehmen viele Bereiche in tariffreie Zonen aus. Für Neueinstellungen gelten dann nicht mehr die Tarifbedingungen.

Freilich hat die neue Beweglichkeit am Arbeitsmarkt ihren Preis: Die Ungleichheit bei der Lohnhöhe steigt, die Gutverdiener legen vor allem in den exportorientierten Branchen zu, während die Geringverdiener vor allem in den heimischen Branchen verlieren. Die große Koalition reagiert darauf mit der Einführung eines einheitlichen Mindestlohn. Der würde aber, so befürchten die Autoren, die speziellen Vorteile des deutschen Arbeitsmarkts Schritt für Schritt kassieren. Er könnte das Ende der Flexibilität und damit des Beschäftigungsbooms bedeuten.

(RP)
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