Steht die Türkei vor einer historischen Wende? Aufgewühltes Land
Ankara · In knapp zwei Monaten wird in der Türkei gewählt. Präsident Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand, die Opposition hat seit dem verheerenden Erdbeben mehr Zuspruch. SPD-Chef Lars Klingbeil sieht bei seinem Besuch in Ankara die Chance auf eine Veränderung im Land.
Sie haben sich von Walsrode in Niedersachsen aus aufgemacht und sind 4000 Kilometer weit mit ihrem Auto gefahren. Ihr Ziel: Die gesammelten Spenden an die Menschen in den türkischen Erdbebengebieten zu verteilen. Die vier Fußballer mit kurdischen Wurzeln vom SV Ciwan Walsrode treffen am Dienstagabend müde in Gaziantep ein. Ihre Reise hat sie geprägt.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat seinen Wahlkreis im Gebiet ihres Vereins und trifft die Männer nach seinem eigenen Besuch in der Erdbebenregion. „Die Menschen sind traumatisiert. Es tut so weh, die zerstörten Geisterstädte zu sehen“, beschreibt einer der vier, Metin Baris, seine Erfahrungen. Das große Thema neben all dem Leid aber sei die anstehende Wahl im Mai. Das Erdbeben habe alles verändert, das politische System sei in Bewegung geraten wie schon lange nicht mehr.
Der türkische, aber auch der internationale Blick, richtet sich nun also verstärkt auf den 14. Mai. Der Doppelwahltag findet etwas mehr als drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben Anfang Februar statt. Mehr als 60 Millionen Wahlberechtigte sind dann aufgerufen, über den Präsidenten des Landes und die Zusammensetzung des Parlaments abzustimmen. Das Erdebeben spielt dabei eine wichtige Rolle: Offiziell geht man von rund 50.000 Toten aus, Schätzungen nennen jedoch auch dreimal so hohe Zahlen. Keiner weiß es genau. Fast zwei Millionen Menschen haben durch die Katastrophe ihr Zuhause verloren.
Vor allem bei der Wahl des Präsidenten gilt Umfragen zufolge ein Sieg des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mittlerweile als unsicher. Der Staatschef, dessen Amtsantritt sich im kommenden Jahr zum zwanzigsten Mal jähren würde, bekam die galoppierende Inflation in seinem Land nicht in den Griff. Das Krisenmanagement nach dem Beben wird von vielen Betroffenen als mangelhaft empfunden. Sie sind einfach nur wütend. Und auf einmal gibt es einen Gegenkandidaten auf Augenhöhe. Ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien hat sich darauf geeinigt, CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu ins Rennen gegen Erdogan zu schicken.
Klingbeils Besuch bei den türkischen Sozialdemokraten kommt kurz nach Kılıçdaroğlus Nominierung. Der Kandidat nimmt sich Zeit, trifft den deutschen Gast gleich zweimal. Ein Treffen Klingbeils mit dem türkischen Außenminister der regierenden AKP kommt dagegen nicht zu Stande, alledings spricht der SPD-Chef im Parlament auch mit AKP-Abgeordneten. Diese sind am Mittwoch besonders nervös, denn es gibt weiteren Gegenwind für ihren Präsidenten. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP gibt am Morgen bekannt, dass sie bei der Präsidentenwahl auf einen eigenen Kandidaten verzichten wird. Zwar spricht sich die Partei nicht offen für CHP-Kandidat Kılıçdaroğlu aus. Aber: Die HDP ist die drittstärkste Partei im Parlament und kommt im ganzen Land auf mehr als zehn Prozent der Stimmen. In der Vergangenheit waren es etwa die HDP-Stimmen, die über Sieg oder Niederlage entschieden - sie gelten als „Königsmacher“.
Und auch die HDP-Führung trifft sich mit Klingbeil, freut sich über den Gast aus Deutschland. Die politische Opposition in der Türkei - auf einmal ist sie wieder da. „Wir blicken mit großem Interesse auf die anstehende Wahl in der Türkei. Sie wird darüber entscheiden, ob Erdogan seine Macht als Präsident weiter ausbauen kann, oder ob sich die Türkei mit einem Regierungswechsel wieder mehr in Richtung Rechtsstaat und hin zu demokratischen Standards bewegt“, beschreibt Klingbeil seinen Eindruck nach den Gesprächen.
Das Land stehe nach der schrecklichen Erdbebenkatastrophe und aufgrund von hoher Inflation vor großen Herausforderungen, betont Klingbeil. „In den vielen Gesprächen, die ich hier geführt habe, ist deutlich geworden, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt zwischen Präsident Erdogan und dem Oppositionsbündnis aus mehreren Parteien mit Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden unserer Schwesterpartei CHP, an der Spitze. Die Chancen auf einen politischen Wandel sind lange nicht mehr so groß gewesen“, sagt er dieser Redaktion.
Für die Fußballer aus Walsrode ist klar: Sie werden weitersammeln, wollen in ein paar Monaten erneut die Reise in die Türkei unternehmen. Und sie schöpfen Hoffnung, dass sie dann in ein politisch geeinteres Land reisen. Mit einem anderen Präsidenten.