Frau Lemke, ist das Kanzler-Machtwort zum Atomausstieg im April 2023 wirklich final?
Interview mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) “Ich habe Förster getroffen, die nicht mehr weiterwissen“
Interview | Berlin · Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) über den wirklich finalen Atomausstieg, notwendige Ergebnisse der Klimakonferenz in Ägypten, Aufgaben beim Artenschutz – und warum sie das Gefühl der Hilflosigkeit nicht zulässt.
Lemke Die Bundesregierung hat die Entscheidung getroffen, dass der Streckbetrieb der drei letzten deutschen Atomkraftwerke am 15. April 2023 enden wird. Das Atomgesetz ist vom Bundestag entsprechend verabschiedet worden. Es gilt also.
Und Sie rechnen nicht damit, dass die FDP die Atomdebatte bei der nächsten Knappheit im Stromnetz oder gar einem Stromausfall wieder aufmachen wird?
Lemke Die ganze Bundesregierung sorgt sich um eine ausreichende Stromversorgung in Deutschland, und deshalb haben wir viele Maßnahmen ergriffen, um diese Sicherheit trotz der Krise zu gewährleisten. Was die Vorstöße der FDP betrifft, so nehme ich den Parteivorsitzenden und Bundesfinanzminister Christian Lindner beim Wort. Er hat die Atomdebatte nach der Entscheidung des Bundeskanzlers für beendet erklärt.
Ändert der Streckbetrieb etwas an dem Zeitplan für die Endlagersuche in Deutschland?
Lemke Der Streckbetrieb kommt ohne neue Brennelemente aus. Das war für mich zentral, um der Maßnahme zustimmen zu können. Die Menge des hochradioaktiven Atommülls ändert sich also dadurch nicht. Und ein um dreieinhalb Monate verlängerter Betrieb verzögert den noch Jahre dauernden Suchprozess für ein Endlager nicht.
Ihr Ministerium hat nun mitgeteilt, dass das anvisierte Datum 2031 für die Festlegung auf einen Standort nicht zu halten ist. Wackelt nun die geplante Inbetriebnahme in 2050?
Lemke Das Standortauswahlverfahren wird von der Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH, kurz BGE, durchgeführt. Ich habe mich über den Verfahrensstand informieren lassen – und die BGE gebeten, eine transparente Terminplanung vorzulegen. Die BGE hat uns nun in einem Diskussionspapier dargelegt, dass das Auswahlverfahren nicht bis zum Jahr 2031 abgeschlossen werden kann. Wir werden dieses Papier jetzt prüfen und dann mit der BGE und dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung über die Konsequenzen sprechen.
Können Sie garantieren, dass die Zwischenlagerung des Atommülls bis zur Inbetriebnahme trotz der Verzögerung sicher ist? Oder braucht es neue Zwischenlager für die nötige Sicherheit?
Lemke Entsprechend dem Nationalen Entsorgungsprogramm werden die bestrahlten Brennelemente in den bestehenden Zwischenlagern aufbewahrt. Die Notwendigkeit, neue Zwischenlager zu errichten, besteht nach jetziger Einschätzung nicht. Die für die Aufsicht der Zwischenlager zuständigen Behörden der Länder, aber auch die Betreiber der Zwischenlager sind der Auffassung, dass die sichere Aufbewahrung der bestrahlten Brennelemente in den Behältern gewährleistet ist. Andernfalls wäre uns das berichtet worden.
Haben Sie Verständnis für Regierungschefs der Länder, die ihre Regionen für ungeeignet erklären wollen?
Lemke Jede Ministerpräsidentin und jeder Ministerpräsident muss sich dem per Gesetz geregelten Standortauswahlprozess fügen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der ein Endlager in seiner Gemeinde haben möchte. Dennoch haben wir gemeinsam die Verantwortung, dafür einen Standort zu finden. Das muss nach wissenschaftlichen Kriterien und der Sicherheit verpflichtet geschehen. Mich hat die Leichtfertigkeit, mit der manche die Laufzeiten von Atomkraftwerken über den 15. April hinaus verlängern und damit zusätzlichen hochradioaktiven Müll produzieren wollten, schon manchmal wütend gemacht.
Zurück zur FDP: Die Liberalen wollen Frackinggas in Deutschland fördern. Wo wäre der Vorteil?
Lemke Es gibt keinen. Das sogenannte unkonventionelle Fracking ist in Deutschland verboten, nicht zuletzt wegen der möglichen Gefahren für das Grundwasser und des extrem hohen Wasserverbrauchs.
Es wird also kein Fracking in Deutschland geben?
Lemke Es ist ja gesetzlich verboten.
Warum ist es dann in Ordnung, Frackinggas beispielsweise aus den USA zu importieren? Die umweltschädlichen Methoden sind dort dieselben.
Lemke Ich würde nicht sagen, dass der Import von LNG-Gas in Ordnung oder gut ist. Er ist aber kurzfristig notwendig, weil uns Russland mit der Energieversorgung erpressen will. Das dürfen wir nicht zulassen. Es ist deshalb besser, jetzt auf bestehende Förderstätten zurückzugreifen, statt neue Strukturen zu errichten und vor allem den Umstieg auf erneuerbare Energien und Energieeinsparung zu beschleunigen.
Über welchen Zeitraum sprechen wir dabei?
Lemke Das lässt sich derzeit nicht sicher prognostizieren, aber der Zeitraum muss so kurz wie irgend möglich sein. Aktuelle Energie-Szenarien zeigen ja auch, dass der Gasverbrauch mittelfristig zurückgehen wird. Das muss er auch, wenn wir das Pariser Abkommen einhalten wollen.
Sie sagten eben, dass es besser sei, auf bereits bestehende Förderfelder zurückzugreifen. Warum setzt sich der Kanzler dann dafür ein, ein noch unerschlossenes Erdgasfeld vor der Küste des Senegals auszubeuten?
Lemke Klar ist: Um das Pariser Abkommen einzuhalten, müssen wir aus allen fossilen Energien aussteigen. Deutschland unterstützt deshalb viele Länder beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder beim Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur. Das hat Priorität. Die Erschließung neuer Gasfelder sollte möglichst vermieden werden.
Macht die Bundesregierung sich nicht komplett unglaubwürdig bei der laufenden Klimakonferenz in Ägypten, die vor einem Jahr in Glasgow noch ausländische Investitionen in fossile Energieprojekte beenden wollte?
Lemke Die Bundesregierung hat sich in Glasgow – und dann auch im Rahmen der G7 – dazu bekannt, grundsätzlich aus der internationalen öffentlichen Finanzierung fossiler Energieträger bis Ende des Jahres auszusteigen. Dazu stehen wir, und das werden wir ab Januar 2023 umsetzen. Nach der Vereinbarung sind lediglich klar umrissene Ausnahmen möglich, insbesondere für Gas als Übergangstechnologie. Diese müssen stets im Einklang mit dem Pariser Abkommen und dem 1,5-Grad-Pfad stehen. Die Energiekrise war vor einem Jahr noch nicht absehbar. Wir müssen daher jetzt die vorgesehene Ausnahme nutzen und beschleunigen parallel den Ausbau der Erneuerbaren.
Glauben Sie noch an das 1,5-Grad-Ziel beim Klimaschutz?
Lemke Das Ziel ist extrem schwer zu erreichen, das Zeitfenster dafür schließt sich langsam. Und trotzdem müssen wir es versuchen.
In was für einer Welt werden heute geborene Kinder im Jahr 2100 leben, wenn die Erderwärmung nicht bei deutlich unter zwei Grad begrenzt wird?
Lemke Das wäre eine Welt, die in weiten Teilen von kaum mehr beherrschbaren Naturkatastrophen und Wetterextremen heimgesucht würde – und das in jedem Erdteil. Das ist keine Welt, die wir unseren Kindern und Enkeln zumuten können. Deswegen braucht es jetzt überall gewaltige Anstrengungen.
Was muss aus Ihrer Sicht bei der Klimakonferenz herauskommen?
Lemke Eines der wesentlichen Ziele für mich ist, dass der Schutz der Natur und Klimaschutz zusammengedacht werden. Ohne den Schutz der Natur ist Klimaschutz nicht möglich und ohne Klimaschutz können wir die Natur nicht bewahren. Wenn die Staatengemeinschaft sich dazu bekennen würde in Ägypten, kämen wir auch endlich bei der Weltnaturkonferenz weiter, die im Dezember in Montreal stattfinden wird.
Was ist das Problem beim Artenschutz?
Lemke Dass er zu oft lächerlich gemacht wird und die Bedeutung funktionierender Ökosysteme für das Überleben der Menschheit lange ignoriert wurde. Das ändert sich jetzt aber, und das ist gut so. Es ist daher entscheidend, dass die Weltnaturkonferenz im Dezember eine neue globale Vereinbarung für biologische Vielfalt verabschiedet, die alle Treiber des Biodiversitätsverlustes adressiert und eine effektive und transparente Umsetzung weltweit fördert. Nur dann haben wir eine Chance, die für den Klimaschutz und das Überleben auf der Erde notwendige Biodiversität zu erhalten.
Halten Sie einen solchen Beschluss für realistisch im Dezember?
Lemke Ja, ich halte das für realistisch und notwendig. Ich bin davon überzeugt, dass unter anderem der natürliche Klimaschutz einer der Schlüssel hierbei ist. Dabei sehen wir die Ökosysteme als unsere Partner im Kampf gegen die Klimakrise und nutzen natürliche Treibhausgas-Speicher. Da muss noch viel mehr geschehen.
Wie resilient ist die Natur? Können sich Arten anpassen?
Lemke Grundsätzlich ja, aber das dauert sehr lange und ausgestorbene Arten kommen nicht wieder zurück. Das Schlimme ist, dass wir uns alle schon an eine Natur gewöhnt haben, die bereits viel ärmer an Arten ist als zu Kindheitstagen unserer Eltern und Großeltern. Deshalb bin ich froh, dass es Naturschützer gibt, die sich unermüdlich um unsere Natur und auch um die einzelnen Arten kümmern, selbst wenn sie dafür manchmal verspottet werden.
Droht dem deutschen Wald auch an anderen Stellen ein solches Massensterben wie im Harz?
Lemke Ja, das ist leider so. Neue Prognosen zeigen, dass vor allem strukturarme und naturferne Fichtenmonokulturen sehr schlecht an die Herausforderungen der Klimakrise angepasst sind. Selbst in Mischwäldern gibt es Probleme durch Trockenheit. Aber anders als in Monokulturen führt das dort nicht direkt zum Zusammenbruch ganzer Wälder. Ich habe Förster getroffen, die nicht mehr weiterwissen, weil jahrhundertelang gepflegte waldbauliche Vorgehensweisen nicht mehr funktionieren. Programme zur gemischten Aufforstung mit standortheimischen Baumarten müssen noch konsequenter verfolgt werden, unter anderem unterstützen wir so die Grundwasserneubildung unter Wäldern. Wir müssen in Deutschland alles dafür tun, den Wasserverbrauch so gut es geht zu reduzieren und Wasser in den Flächen zu halten.
Haben Sie manchmal das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn Sie sich das Tempo der Erderwärmung und der Verschmutzung sowie des Artensterbens anschauen?
Lemke So ticke ich nicht. Mein Fokus richtet sich darauf, was zu tun ist und was ich bewirken kann und was wir alle gemeinsam verändern können.