Wahlrecht 102 Staatsrechtler dringen auf Verkleinerung des Bundestages

Berlin · Bislang waren alle Anläufe für ein neues Wahlrecht vergebens. Der aufgeblähte Bundestag droht noch größer zu werden. Nun lesen 102 Staatsrechtler dem Parlament die Leviten. Erste Reaktionen belegen das Grundproblem.

 Der Plenarsaal während einer Bundestagssitzung, in den Blöcken sitzen von links die AfD, die FDP, die Union, die Grünen, die SPD und die Linken.

Der Plenarsaal während einer Bundestagssitzung, in den Blöcken sitzen von links die AfD, die FDP, die Union, die Grünen, die SPD und die Linken.

Foto: dpa/Michael Kappeler

In einem offenen Brief haben sich 102 Staatsrechtsprofessoren zu einem eindringlichen Appell an den Bundestag zusammen gefunden. Sie beklagen, dass das Parlament mit 709 Mitgliedern 111 mehr hat als das Gesetz für den Normalfall vorsieht und dass es ohne eine Wahlrechtsänderung nach der nächsten Wahl sogar über 800 werden könnten. Zugleich machen sie auf ein bezeichnendes Paradox aufmerksam: Das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform habe einen „geradezu entdemokratisierenden Effekt“, denn es sei derart kompliziert geworden, dass kaum noch ein Wähler verstehe, was seine beiden Stimmen letztlich bewirkten.

Es ist bezeichnend, dass die Staatsrechtler zwar die Übergröße und die „unnötigen Zusatzkosten von vielen Millionen Euro“ beklagen und dazu aufrufen, das Bundeswahlgesetz „unverzüglich“ zu vereinfachen, den Weg dahin aber mit einem sehr zurückhaltenden Satz markieren: „Vorschläge für eine solche Reform, die übrigens auch ohne die (aufwändige) Vergrößerung der Wahlkreise möglich ist, liegen auf dem Tisch.“ Vermutlich war das die Formel, auf die sich die Schar der 102 Experten einigen konnte. Und damit bleibt das Echo der Verantwortlichen genauso an der Oberfläche wie die Briefeschreiber selbst: CDU und SPD begrüßen den Vorstoß, denn von ihnen liegen jeweils Vorschläge auf dem Tisch, die sich aber gegenseitig ausschließen. Eine Mehrheit jenseits der Union sieht Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) just für seine Idee, die im Gegensatz zu der Anmerkung der Briefeschreiber auf eine Vergrößerung der Wahlkreise hinausliefe.

„Ich begrüße den Vorstoß der Staatsrechtler“, sagte Oppermann unserer Redaktion. Schließlich sei der Bundestag „deutlich zu groß“ und drohe noch größer zu werden. „Deswegen muss etwas geschehen, sonst verliert das Parlament seine Glaubwürdigkeit“, lautet seine Folgerung. Die Reform des Wahlrechts sei eine Bringschuld der Abgeordneten. „Sie muss jetzt bis Ende des Jahres angegangen werden, weil sonst die Zeit bis zu den nächsten Bundestagswahlen zu knapp wird“, unterstrich Oppermann. Alle Vorschläge laufen aus seiner Sicht darauf hinaus, die Zahl der Wahlkreise zu verringern, damit Überhang- und Ausgleichsmandate aufgefangen werden könnten. „Am Ende muss es aber dabei bleiben, dass mit der Zweitstimme über die proportionale Zusammensetzung des Deutschen Bundestages entschieden wird“, bekräftigte der Parlamentsvizepräsident.

Damit gerät er in Konflikt mit der Union und sagt es auch klar: „Deshalb kann der Wunsch der Union, sich dadurch einen Sondervorteil zu verschaffen, dass ein Teil der Überhangmandate unausgeglichen bleibt, nicht akzeptiert werden.“ Und er droht erneut mit einer Mehrheit im Bundestag in dieser Frage „ohne die Union“, ergänzt jedoch um die Feststellung, dass die Reform auf eine „möglichst breite Grundlage gestellt“ werden solle.

Auch der Fraktionsgeschäftsführer der Union, Michael Grosse-Brömer, begrüßt den Appell der Staatsrechtler ausdrücklich. Vor allem betont er, wie sehr zu Recht sie auf Reformvorschläge hinweisen, „die ohne eine aufwändige Änderung der Wahlkreise auskommen und deshalb schnell realisiert werden können“. Für die Union stehe fest: „Eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise ist nicht nur aufwändig, sondern würde auch zu einer größeren Distanz zwischen Abgeordneten und Bevölkerung führen und die notwendige demokratische Repräsentanz vor Ort ganz erheblich beschädigen.“ Für Grosse-Brömer steht daher die Forderung im Mittelpunkt: „Die Bürgernähe der Politik darf bei einer Wahlrechtsreform nicht aus den Augen verloren werden.“ Dazu lägen von der Union mehrere konstruktive Vorschläge auf dem Tisch, die jedoch von der Opposition bisher leider alle abgelehnt worden seien.

Das Problem ist die sehr zurückhaltende Vorgabe im Grundgesetz und die in sich unklare Priorisierung im Bundeswahlgesetz. Die Verfassung verlangt in Artikel 38 lediglich, dass die Abgeordneten „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt werden müssen. Es hat sich nicht darauf festgelegt, ob es ein Mehrheitswahlrecht sein soll, bei dem sich ein Parlament aus den Volksvertretern zusammensetzt, die in ihren jeweiligen Wahlkreisen die meisten Stimmen bekommen haben, oder ob es ein Verhältniswahlrecht sein soll, in dem bundesweit der Anteil der Wähler für die einzelnen Parteien deren Zahl der Sitze im Parlament ergibt.

Das Wahlgesetz hat daraus eine Mischform entwickelt, die zum einen Deutschland in 299 Wahlkreise aufteilt in denen jeweils der oder die mit den meisten Stimmen gewählt ist. Weitere 299 Mandate sollen sich zum anderen aus den Landeslisten der Parteien nach ihrem jeweiligen Stärkeverhältnis ergeben. Einen Graben zwischen diesen beiden 299er Gruppen nach dem sogenannten Grabenwahlrecht lehnte die SPD in der ersten großen Koalition ab, weil das die Großen gestärkt und die Kleinen geschwächt hätte, und seinerzeit schielte die SPD auf eine Koalitionsmöglichkeit mit der FDP. Nach mehreren Verfassungsgerichtsurteilen ist nun ein faktisches überwölbendes Verhältniswahlrecht daraus geworden, wonach eine Partei, die in einem Bundesland mit der Erststimme mehr Direktwahlkreise gewonnen hat als ihr nach dem Anteil an den Zweitstimmen zustehen, bei den anderen Parteien so viel mehr Sitze zum Ausgleich auslöst, bis das Verhältnis wieder gewahrt ist.

SPD und Opposition wollen nun an die Erststimmen ran und sehen nur eine verfassungsfeste Möglichkeit in der Senkung der Zahl der Direktwahlkreise. Die Union will hingegen nicht mehr jedes gewonnene Überhangmandat einer Partei bei den anderen ausgleichen. Dieser Umstand ist historisch nicht ohne Brisanz: So sah es in der Wahlnacht 1998 nach einer SPD-geführten großen Koalition aus, weil Rot-Grün nur eine hauchdünne Mehrheit nach dem Verhältnis der Stimmen besaß. Erst als der Vorsprung durch Überhangmandate für die SPD üppiger ausfiel, kam es zum rot-grünen Projekt.

Es liegt daher in der Natur der Sache, dass bei einer Verkleinerung des Bundestages alle weniger Mandate bekommen dürfen. Hinter den Kulissen läuft das Geschachere um die Frage weiter, wer mehr und wer weniger verlieren soll.

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