Manuela Schwesig im Interview SPD-Vize: Hartz-Reform "lebensfremd"

Berlin (RP). Am Mittwoch will das Bundeskabinett die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze absegnen. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig kritisiert die Pläne von Arbeitsministerin von der Leyen scharf. Die Reform sei "lebensfremd" und ein bürokratisches Monster, so die SPD-Politikerin im Interview mit unserer Redaktion. Schwesig fordert ein "echtes Bildungspaket".

Die neuen Hartz-IV-Regelsätze
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Foto: ddp

Heute will das Bundeskabinett die Hartz IV Reform verabschieden. Was bringt sie den Transferempfängern?

Schwesig Eindeutig zu wenig. Die Reform ist ein bürokratisches Monster und völlig unausgewogen. Bundesministerin von der Leyen hat die große Chance verspielt, im Kampf gegen Kinderarmut entscheidend voranzukommen, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eröffnet hat. Anstatt Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch zu holen und ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren, hat sie hinter verschlossenen Türen wertvolle Zeit verstreichen lassen. Es gibt gute praktische Beispiele dafür, wie in der Kommune mehr Bildungsteilhabe für Kinder organisiert werden kann. Offensichtlich hat Frau von der Leyen aber das Gespräch mit den Praktikern vor Ort nicht gesucht, sonst wären ihre Vorschläge anders ausgefallen. Ihr Vorschlag, die Jobcenter mit der Umsetzung des Bildungspakets zu beauftragen, ist völlig weltfremd. Hier muss die Bundesregierung nachbessern und die Zuständigkeit dorthin geben, wo das Know-How ist: bei den Kommunen.

Die SPD wollte doch auch stets Sachleistungen statt Geld. Sie müssten die Ministerin eigentlich loben.

Schwesig Ich halte einen Mix aus Geld und Sachleistungen für wichtig. Sachleistungen sind für uns vor allem der freie Zugang zu einer guten Bildungs- und Freizeitinfrastruktur. Deshalb setzen wir auf Ganztagskitas und Ganztagsschulen mit einem gesunden, warmen Mittagessen verknüpft mit Angeboten aus der Kinder- und Jugendarbeit, wie zum Beispiel Musik und Sport. Bedürftige Kinder mit Gutscheinen im Wert von ein paar Euro abzuspeisen geht gar nicht! Außerdem ist dieses System lebensfremd, weil bürokratisch und stigmatisierend. Zudem sind Teilhabechancen an Kultur und Sport oder ein gesundes, warmes Mittagessen nicht nur für Kinder aus Hartz-IV-Familien wichtig, sondern für alle Kinder. Deshalb fordern wir Frau von der Leyen auf, auch Lösungen und Unterstützung für Kinder aus Familien zu schaffen, deren Einkommen knapp über Hartz-IV liegen. Wir wollen einen gerechten Regelsatz. Die Bundessozialministerin hat den Kinderbedarf an Haushalten berechnet, die selbst zu wenig für ihre Kinder haben. Das kann doch nicht funktionieren. Als siebenfache Mutter müsste Frau von der Leyen eigentlich wissen, dass sechs Euro im Monat für Windeln bei einem Baby niemals reichen.

Unter welchen Bedingungen könnte die SPD im Bundesrat der Reform doch noch zustimmen?

Schwesig Wir wollen ein echtes Bildungspaket, von dem auch Kindern aus Geringverdienerfamilien profitieren können. Das Bildungspaket soll als eine Art Bildungsfonds bei den Kommunen angesiedelt werden und diese eine entsprechende finanzielle Unterstützung vom Bund bekommen. Praxisbeispiele wie der Lübecker Bildungsfonds zeigen, dass dies der einzige sinvolle Weg ist. Schulen und Kitas bekommen dann je nach Bedarf ein Budget aus dem Fonds, aus dem dann alle Notwendigkeiten wie Schulmaterialen, Musik- und Sportangebote Klassenfahrten, Sprachförderung und ähnliches bezahlt werden. So können auf einfache und unbürokratische Weise Familien unterstützt werden, die sich das alles nicht leisten können. Ansprechpartner sind die Pädagogen und Pädagoginnen in Schulen und Kitas, denn sie kennen die Kinder mit ihren Bedürfnissen und deren Eltern am besten.

Das ist alles?

Schwesig Nein. Zum anderen fordert die SPD ein neues Bildungsinfrastrukturprogramm des Bundes: Schulsozialarbeiter an jeder Schule. Finanziert werden kann dies durch den Verzicht auf das familienpolitisch völlig unsinnige, zwei Milliarden teure Betreuungsgeld, das keinerlei Chancen für benachteiligte Kinder schafft. Es ist eine Fernhalteprämie, denn es hält Kinder von Chancen fern, indem es den Kita-Verzicht finanziell prämiert und insbesondere für einkommensschwache Familien ökonomisch sinnvoll macht. Schulsozialarbeiter hingegen haben einen direkten Draht zu den Kindern. Sie können den Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Unterstützung finden Kinder nur bei Menschen, die sie fördern und denen Sie vertrauen: starke Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagogen in Kitas und Schulsozialarbeiter in Schulen. Sie können nicht durch einen Gutschein oder eine Karte ersetzt werden. Frau von der Leyen muss also deutlich nachbessern, wenn sie die Zustimmung der SPD haben will.

Die Unionsländer schlagen vor, im Gegenzug für eine Zustimmung der SPD den Mindestlohn in der Zeitarbeit einzuführen. Ist das für sie vorstellbar?

Schwesig Auf solche Tricksereien auf Kosten der Kinder lassen wir uns nicht ein.

Sollte die SPD 2013 an die Regierung kommen, was wird bei Hartz IV geändert?

Schwesig Wir brauchen in erster Linie ein qualitativ gutes Angebot in Kitas und Schulen. Dazu gehört ein warmes Mittagessen genauso wie Schulsozialarbeiter und den Zugang zu Sport, Musik und Bildung. Jedes Kind in Deutschland muss eine gerechte Chance haben. Es geht aber auch um gesetzliche Mindestlöhne, die Begrenzung der Leiharbeit, mehr Chancen durch Bildung und Qualifikation, den Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik und die Entwicklung eines sozialen Arbeitsmarktes. Die Vorschläge der SPD liegen auf dem Tisch.

Das Gespräch führte Michael Bröcker.

(RP)
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