Analyse Milliardenfeuerwerk gegen die Krise

Berlin · Die SPD steht als Volkspartei am 15-Prozent-Abgrund. Dahinter kommt die Bedeutungslosigkeit. Mit einem umfangreichen Sozialstaatskonzept kämpft Chefin Nahles für mehr Zustimmung – und das Ende eines alten Traumas.

 Seit September 2017 ist Andrea Nahles SPD-Chefin. Sie steht massiv unter Druck, endlich Erfolge für ihre Partei einzufahren.

Seit September 2017 ist Andrea Nahles SPD-Chefin. Sie steht massiv unter Druck, endlich Erfolge für ihre Partei einzufahren.

Foto: dpa/Swen Pförtner

Der Altkanzler wusste, was da diese Woche kommen würde. Nichts anderes nämlich, als die weitgehende Abkehr vom bedeutendsten Reformprojekt der vergangenen Jahrzehnte. Seinem Reformprojekt. Mit der Agenda 2010 ging Gerhard Schröder in die Geschichtsbücher ein. Jetzt, rund 15 Jahre später, will seine SPD sich ganz offiziell davon abwenden. Es schmerzt den 74-Jährigen, so viel ist klar, dass die 26 Jahre jüngere Vorsitzende Andrea Nahles an seinem Erbe sägt. Schröder schlug am Wochenende just zum richtigen Zeitpunkt per Interview um sich, wurde persönlich, warf Nahles „Amateurfehler“ vor, sprach ihr – nicht unbegründet – die Eignung als Kanzlerkandidatin ab. Und dann kam sie.

Ebenfalls per Interview skizzierte Nahles wenige Tage später, wie sie endlich das Trauma ihrer Partei überwinden will, das Schröder der SPD zugefügt hatte. Das Trauma mit dem Doppelnamen Agenda 2010 und Hartz IV: damals sozialpolitisch und ökonomisch sinnvoll, zugleich ein krasser Bruch mit dem Vertrauen vieler SPD-Stammwähler. Nahles’ Ansatz: Eine umfangreiche „Sozialstaatsreform 2025“, Agenda 2025 sozusagen. Das Konzept soll am kommenden Sonntag bei einer Vorstandsklausur verabschiedet werden und als Grundlage für ein neues Parteiprogramm dienen. Und Nahles erhofft sich davon den dringend benötigten Aufschwung in der Gunst der Wähler. Sie selbst steht wegen der miserablen Umfragewerte mit dem Rücken zur Wand. Das Superwahljahr 2019 könnte mit der Europawahl und wichtigen Landtagswahlen in Bremen und im Osten bereits Nahles’ Ende an der Spitze der Partei besiegeln, wenn die SPD bei den Abstimmungen keine Erfolge vorweisen kann.

Monatelang hatten führende Sozialdemokraten unter der Leitung von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Juso-Chef Kevin Kühnert an einem entsprechenden Papier geschrieben. 17 Seiten lang ist allein der nun bekannt gewordene erste Teil zur „neuen Arbeitswelt“. Der Inhalt: ein milliardenschweres Feuerwerk aus vermeintlich populärer Sozialpolitik.

So soll es künftig beispielsweise eine Kindergrundsicherung geben, in der alle bisherigen, teils kompliziert miteinander verrechneten Leistungen gebündelt werden. Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und Maßnahmen aus der allgemeinen Grundsicherung will die SPD zusammenfassen und ohne Antragsdschungel zugänglich machen. Kinder sollen so aus der Grundsicherung für Erwachsene herausgeholt werden, also aus Hartz IV. Zwar will die SPD die Hilfe für Kinder abhängig vom Einkommen der Eltern gewähren, doch kritisieren liberale Ökonomen an dem Konzept, dass die zusätzliche Kinderabsicherung den Anreiz der Eltern verringere, in Arbeit zu kommen und höhere Einkommen zu erzielen. Der Mindestlohn soll nach den SPD-Plänen auf zwölf Euro steigen – auch das dürfte die Erwerbstätigkeit insgesamt eher drücken.

Kern des Konzepts ist aber eine neue Form des Arbeitslosengeldes. Die SPD will Kernelemente der Hartz-IV-Reform zurückschrauben. So sollen ältere Arbeitslose ab 58 Jahren das Arbeitslosengeld wieder bis zu 33 statt bis zu 24 Monate lang erhalten können, bevor sie auf Hartz-IV-Niveau fallen. Bei den rot-grünen Reformen war die damalige Arbeitslosenhilfe, die niedriger war als das Arbeitslosengeld, aber deutliche höher als die Sozialhilfe, für rund eine Million Empfänger abgeschafft worden. Zudem wurden etwa eine Million Sozialhilfe-Empfänger erstmals in die Jobvermittlung einbezogen. Dadurch stieg die offizielle Arbeitslosenzahl im Februar 2005 auf über fünf Millionen, was dazu führte, dass die Regierung Schröder abdanken musste. Damals wurde auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds auf zwölf Monate für Jüngere und 18 Monate für Ältere verkürzt. Später korrigierten diverse Regierungen diese Regel und  verlängerten die Bezugszeit für Ältere auf bis zu 24 Monate. Grundsätzlich aber hielt man sich an die Linie, Anreize zur Frühverrentung zu verringern und die Beschäftigungschancen Älterer zu steigern.

Ökonomen halten die Verlängerung der Bezugszeit daher für grundsätzlich falsch. „Alle wissenschaftlichen Studien zeigen ganz klar: Je länger die Bezugszeit beim Arbeitslosengeld, desto länger ist jemand arbeitslos. Die Beschäftigungschancen Älterer verschlechtern sich durch eine längere Bezugszeit“, sagt Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Die SPD hat das Wesen der Arbeitslosenversicherung nicht verstanden: Sie ist eine Versicherung gegen den Schadensfall Arbeitslosigkeit und kein Sparvertrag für Beschäftigte.“

Eine andere Kernforderung ist der Rechtsanspruch auf Home Office, damit mehr Unternehmen ihren Mitarbeitern das Arbeiten von zuhause aus anbieten. 40 Prozent der Beschäftigten könnten dies, aber nur zwölf Prozent bekämen den Wunsch erfüllt, so die SPD. Auch hier zeigen sich Fachleute skeptisch. Mit mehr Handlungsspielräumen sei auch immer mehr Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters verbunden, so Stettes. Zudem würden die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Arbeitsplatz verwischt. Für viele bedeute das mehr als weniger Stress. Ein Rechtsanspruch würde vor allem kleinere Unternehmen überfordern.

Und dennoch: Mit ihrem Konzept könnte es der SPD nach vielen Jahren erstmals wieder gelingen, ihr Profil geordnet zu schärfen und nach links zu rücken. Ob sie damit jedoch wirklich Wähler von Linkspartei und AfD zurückholen kann, darf bezweifelt werden. Zumindest ist diese Strategie bislang nicht aufgegangen, wenn zugleich Marketing und Kommunikation nicht aufeinander abgestimmt waren. Die Folge: Ein Feuerwerk an Ideen, an dessen Ende niemand die wesentlichen Botschaften mitbekommen hatte.

(jd/mar)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort