SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz "Mister Europa" wird kämpfen müssen

Würselen/Berlin · SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz muss eine beispiellose Aufholjagd starten, wenn er Angela Merkel gefährlich werden will. Dass er kämpfen kann, hat der Mann aus Würselen bei Aachen in seinem Leben allerdings schon oft bewiesen.

Martin Schulz stellt sich der SPD-Fraktion vor
10 Bilder

Martin Schulz stellt sich der SPD-Fraktion vor

10 Bilder
Foto: ap, SO

Gut acht Jahre muss es her gewesen sein, etwa zu der Zeit des Rücktritts von Kurt Beck, da wurde Martin Schulz die K-Frage schon einmal gestellt. In einer Unterbezirksvorstandssitzung seiner Heimat-SPD im Aachener Land. Ob er denn einmal Kanzlerkandidat werden wolle, wollten sie wissen. "Ja, das würde ich wollen, vor allem aber Kanzler", habe er damals gesagt, erinnert sich ein Teilnehmer.

Das kann er nun unter Beweis stellen, die Aufholjagd kann beginnen. Bei etwas mehr als 20 Prozent dümpelt die SPD in Wahlumfragen, Schulz hat einen weiten Weg zurückzulegen. Doch mit ihm tritt einer als Spitzenkandidat an, der in der Bundespartei enormen Rückhalt genießt. Und nicht nur da: Als "Mister Europa" war er ein Aushängeschild der Partei, machte Brüssel für viele Bürger wieder lebendiger, nahbarer.

Sigmar Gabriel will nicht Bundeskanzler werden: Reaktionen der Politik
15 Bilder

So reagiert die Politik auf Gabriels Rückzug

15 Bilder
Foto: dpa, gam kde axs

Dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, impulsiv und emotional das Weltgeschehen kommentiert, brachte ihm in der Vergangenheit viel Sympathie bei den Wählern ein. Etwa als es um die Rettung Griechenlands in der Finanzkrise ging, um Russlands aggressive Außenpolitik, um die Machenschaften des türkischen Präsidenten Erdogan und um die mangelnde Solidarität Europas in der Flüchtlingskrise. Für diese Haltung in Europa wurde er auch an der Parteibasis gefeiert, war dort bereits in den vergangenen Monaten der deutlich beliebtere Kandidat. Schulz hat viel Rückhalt im Bund, und in NRW, wo seine Heimatstadt Würselen liegt, sowieso.

Doch nun muss er zeigen, dass er sich auch auf Bundespolitik versteht. Es ist ein weiterer Schritt in der Karriere eines Mannes, der schon einen langen Weg gegangen ist. Einen Weg, der nicht immer gerade war.

Das jüngste von fünf Kindern

Der heute 61-Jährige wuchs in Würselen bei Aachen in einer Welt auf, die geprägt ist vom Spießertum der 50er Jahre, vom rheinischen Katholizismus und vom Braunkohletagebau, in dem Schulz in erster Linie Arbeitsplätze sieht — und nicht eine Umweltbelastung.

Als jüngstes von fünf Kindern interessiert er sich vor allem für Fußball. Wie so viele kleine Jungen will er Profifußballer werden. Ein guter Techniker sei er zwar nicht gewesen, "aber vorbildlich im Einsatz", meint Schulfreund Dietmar Schultheis. So ehrgeizig sei Martin gewesen, dass er dafür Fouls in Kauf genommen habe, "aber hinterher tat ihm das immer sehr leid". Eine Knieverletzung vereitelt die Profikarriere.

In diesem geplatzten Traum sehen seine Berater heute eine wichtige Ursache dafür, dass Schulz in den 70er Jahren viel zu viel Alkohol trank. Jahrelang spielt sich ein Großteil seines Lebens in der Dorfkneipe ab, wo damals gefeiert, aber auch leidenschaftlich über Politik diskutiert wird.

Lange geht das so; er muss ohne Abitur das Gymnasium verlassen und rettet sich in eine Ausbildung als Buchhändler. Schulz selbst geht mit dieser Phase seines Lebens offen um. In einer aktuellen Biografie wird die Nacht des 26. Juni 1980 so beschrieben: Nach einer durchzechten Nacht sitzt er allein in seiner Wohnung und sagt sich: "Du musst dich jetzt entscheiden: Entweder du gehst zugrunde, oder du hörst auf zu trinken." Von dieser Sekunde an habe er auch kein Bedürfnis mehr danach verspürt.

Zu Hannelore Kraft könnte das Verhältnis laut Parteifreunden besser sein

Seine Familie habe ihm in jenen Jahren sehr geholfen, erinnern sich Weggefährten. Schulz' Mutter stammt aus einem eher konservativ-bürgerlichen Elternhaus, sie war leidenschaftliches CDU-Mitglied. Der Vater hingegen, den Jugendfreunde als "ruhigen Vertreter" beschreiben, war einfacher Polizeibeamter und Sozialdemokrat.

Diese Kombination ist es, die Schulz in den kommenden Wochen eine Menge Glaubwürdigkeit einbringen könnte. Etwa wenn es darum geht, die SPD im Wahlkampf beim Thema innere Sicherheit zu positionieren. Da könne Schulz authentischer auftreten als Gabriel, meint Schultheis, der ihn politisch nahe bei Helmut Schmidt verortet. "Er kommt auch bei Konservativen sehr gut an", meint er.

Beim Neujahrsempfang des Bürgermeisters in Eschweiler etwa, da habe "der Martin", wie sie ihn hier nennen, Mitte Januar eine Rede vor 600 Leuten gehalten. Alle demokratischen Parteien waren vertreten. Mucksmäuschenstill sei es gewesen im Saal — und am Ende habe er von CDU-Leuten beinahe mehr Zuspruch bekommen als von der eigenen Partei. Nur zu Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, da könnte das Verhältnis besser sein, meinen Parteifreunde.

Seit Weihnachten wurde es auffallend ruhig um Schulz

In Berlin kann Schulz auf die Landesgruppe zählen. Sie sieht ihn auch im Landtagswahlkampf in seiner künftigen Funktion als Kanzlerkandidat und Parteichef als Geheimwaffe. Viele trauen ihm im Wahlkampf wegen seines rhetorischen Talents deutlich mehr zu als Sigmar Gabriel. Die beiden pflegen eine Freundschaft, die in der aufreibenden Zeit der Personalspekulationen zuletzt allerdings ein paar Kratzer bekam.

Etwa, als Schulz in einer ARD-Sendung die Sprunghaftigkeit Gabriels kommentierte und sich nach seinem Entschluss, in die Bundespolitik zu wechseln und Brüssel den Rücken zu kehren, sehr medienwirksam in Deutschland inszenierte. Da lief sich jemand für die Kanzlerkandidatur warm, war der Eindruck.

Seit Weihnachten aber wurde es wieder auffallend ruhig um Schulz; schon kamen Spekulationen in Schwung, Gabriel werde von seinem Zugriffsrecht Gebrauch machen. Dafür sprach auch, dass es Gabriel war, der Frank-Walter Steinmeier den Weg ins Bundespräsidentenamt bahnte. "Das war auch ein alter Plan von Martin", erzählt Schultheis. Vor etwa einem halben Jahr habe Schulz ihm verraten, dass er es gut fände, wenn Steinmeier Bundespräsident würde.

Doch die lange Zeit der Ungewissheit in der Öffentlichkeit strapazierte die Partei zuletzt bis aufs Äußerste. Jetzt sind alle stolz darauf, so lange die Entscheidung hinausgezögert und geheim gehalten zu haben. Auch die Gabriel-Fans, etwa der Chef des einflussreichen rechten Seeheimer Kreises in der SPD-Fraktion, Johannes Kahrs: "Tief in meinem Herzen war ich schon immer ein Fan von Sigmar Gabriel", sagt er unserer Redaktion. Doch Schulz sei keiner, der die große Koalition verkörpere, sondern der als frisches Gesicht von außen komme. Das sei eine Chance. "Und ich finde nicht, dass Martin Schulz in erster Linie für Rot-Rot-Grün steht."

Andersherum rechnen sich Parteilinke nun nicht mehr so große Chancen für ihr Wunschbündnis mit der Abkürzung R2G aus, also für Rot-Rot-Grün. Schulz sagte für die Sondersitzung des Parteipräsidiums gestern Abend eine rot-rot-grüne Veranstaltung ab, zu der er sonst erschienen wäre.

Aber als Verfechter einer solchen Koalition gilt er nicht. "Martin Schulz will möglichst viel für die SPD rausholen, und mit ihm haben wir die besten Chancen dazu. An Bündnisse sollten wir noch nicht denken", sagte ein Abgeordneter nach der Fraktionssitzung. Und auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Schulz-Unterstützer Karl Lauterbach mahnt: "Wir sollten Angela Merkel nicht den Gefallen tun und einen Lagerwahlkampf führen."

(jd)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort