Herr Klingbeil, wie bewerten Sie den Kompromiss zur Kindergrundsicherung?
SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil „Mir geht es nicht um Haltungsnoten“
Interview | Wiesbaden · SPD-Chef Lars Klingbeil scheut keine klaren Worte. Nach dem Zoff um die Kindergrundsicherung fordert er die Regierung auf, sich künftig an klarere Regeln des Umgangs miteinander zu halten.
Klingbeil Ich bin zufrieden, dass es jetzt das Konzept und zeitnah den Gesetzentwurf geben wird. Die öffentliche Auseinandersetzung hat zu lange gedauert. Und sie hat das Ziel des Koalitionsvertrags, Kinderarmut konsequent zu bekämpfen, unnötig überlagert. Als SPD haben wir schon 2019 auf dem Bundesparteitag ein Konzept für die Kindergrundsicherung auf den Weg gebracht und es erfüllt mich mit Stolz, dass das jetzt auch umgesetzt wird. Wir bündeln alle Leistungen für Kinder und machen es Familien sehr viel leichter, an das Geld zu kommen, das ihnen zusteht.
Waren der öffentliche Streit, die vielen Extra-Runden die 400 Millionen Euro wert, die Lisa Paus nun Christian Lindner abgerungen hat?
Klingbeil Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Streitereien der vergangenen Wochen überflüssig fand. Wichtig ist mir aber: Der Kampf gegen Kinderarmut ist mehr als die 2,4 Milliarden Euro, auf die man sich nun geeinigt hat. Wir haben in dieser Legislaturperiode die größte Kindergelderhöhung seit den neunziger Jahren umgesetzt und den Kinderzuschlag angehoben. Wir unterstützen die Länder und Kommunen bei Kita-Qualität und Ganztagsbetreuung für Grundschüler, um die Bildungschancen von Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern zu stärken. Zusätzlich kämpfen wir gegen Erwerbsarmut, mit der Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro oder der Stärkung von Tariflöhnen. Das ist ein Gesamtpaket. Und deswegen wird diese Debatte über eine Geldsumme dem absolut nicht gerecht.
Also wird die SPD-Fraktion dem zustimmen?
Klingbeil Natürlich hat ein selbstbewusstes Parlament das Recht, das nochmal zu diskutieren und an Stellschrauben zu drehen. Aber es ist ein guter Tag, weil die Regierung der Kinderarmut in Deutschland den Kampf angesagt hat.
Was ist Ihre Erwartung an die Kabinettsklausur?
Klingbeil Es ist meine Erwartung, dass man auch darüber redet, wie künftig Regieren geräuschloser vonstatten gehen kann als es in den letzten Wochen der Fall war. Da ist durch den öffentlichen Streit zwischen einzelnen Ministerinnen und Ministern sehr viel Verunsicherung in die Gesellschaft hineingesickert. Damit muss einfach Schluss sein. Von Meseberg muss zweitens ein klares Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Arbeitsplätze hier ausgehen. Das hat Kanzler Olaf Scholz ja angekündigt und dabei hat er unsere volle Unterstützung. Das Wachstumschancengesetz hätte von mir aus bereits vor zwei Wochen verabschiedet sein können, aber es geht auch um Bürokratieabbau, um Digitalisierung, damit Deutschland ein starker Wirtschaftsstandort bleibt. Wenn es nach der SPD geht, gehört dazu auch ein Industriestrompreis.
Es ist ein Vabanque-Spiel als Parteivorsitzender, Haltungsnoten für das Kabinett zu verteilen. Sie haben sich dazu entschloss. Was ist nun Ihre Erwartung, was muss sich ändern?
Klingbeil Ich nehme für mich in Anspruch, dass wir in Koalitionsausschüssen viele Streitigkeiten klären konnten. Ich erinnere etwa an die Frage der Gas- und Strompreisbremse, bei welcher der Knoten im Koalitionsausschuss durchschlagen wurde. Aber der Koalitionsausschuss kann nicht die Arbeit von Ministerinnen und Ministern ersetzen. Mir geht es nicht um Haltungsnoten. Aber es ist doch eine große Ehre, wenn man in diesem Land am Kabinettstisch sitzen darf und mit dieser Ehre gehen Verantwortung und Pflichten einher. Die hat jeder anzunehmen.
Beim Thema Industriestrompreis liegen Fraktion, Parteispitze und Kanzler auseinander – wie geht das Kräftemessen aus?
Klingbeil Der Kanzler und ich sind uns einig, dass wir zu hohe Energiepreise haben, deswegen haben wir die Gas- und Strompreisbremse eingeführt und beschleunigen den Ausbau der erneuerbaren Energien, weil Sonne und Wind am Ende den günstigsten Strom liefern werden. Ich bin mir ebenfalls mit dem Bundeskanzler einig, dass es nicht um Dauersubventionen gehen kann. Der Vorschlag der SPD ist sehr konkret: Fünf Jahre, fünf Cent, gebunden an sehr starke Bedingungen wie etwa Beschäftigungsgarantien. Mit diesem Konzept kann sich auch in der Industrie niemand zurücklehnen, die Unternehmen müssen ebenfalls ihre Hausaufgaben machen. Ich möchte, dass Deutschland ein starker Industriestandort bleibt und dass Arbeitsplätze hier sicher sind.
Wie sieht Ihr Zeitplan dafür aus?
Klingbeil Wir haben bis zum Ende der Haushaltsberatungen Anfang Dezember Zeit, das zu klären. Und aus meiner Sicht gibt es weder beihilferechtlich noch bei der Umwidmung der Mittel aus dem Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds ein juristisches Problem. Dieser Fonds ist dafür da, Bürger und Unternehmen durch die Zeit der Umbrüche zu bringen. Genau darauf zielt der Industriestrompreis ab. Aus meiner Sicht kann die Finanzierung damit gelingen.
Wäre es nicht an der Zeit, über eine maßvolle Agenda 2030 für die Industrie nachzudenken?
Klingbeil Wenn Konservative über eine Agenda 2030 reden, dann meinen sie damit Abbau von Arbeitnehmerrechten und weniger Sozialstaat, also mehr arbeiten, später in Rente gehen. Das mache ich mir ganz sicher nicht zu eigen. Drei Dinge sind wichtig für eine starke Wirtschaft: Den Fachkräftemangel in den Griff bekommen, die Strompreise senken plus Erneuerbare ausbauen und Bürokratie abbauen, damit wir schneller werden in Planungs- und Genehmigungsverfahren. Da sind wir in der Ampel dran. Und wir brauchen Investitionen in Klimaneutralität und in die passende Infrastruktur. Jeder Euro, den wir in die Transformation unserer Wirtschaft stecken, ist ein Euro für zukünftigen Wohlstand und gute Arbeitsplätze. Und ich glaube, da können wir noch mehr tun.
Nochmal zurück zu den Haushaltsberatungen im Bundestag. Die mögliche Streichung des Elterngelds für Höherverdienende ist umstritten. Wird die Fraktion, sollte der Punkt nicht geändert werden, dem Etat dennoch zustimmen?
Klingbeil Das wird Thema der Haushaltsberatungen sein. Es gab zurecht viel Kritik daran. Mir geht es nicht darum, Menschen mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 150.000 Euro finanziell zu entlasten. Aber beim Elterngeld geht es um die Gleichstellung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie wir Partnerschaftlichkeit stärken, sollten wir nicht an Einkommensgrenzen festmachen. Ich vertraue darauf, dass man im Parlament zu einer Lösung findet, die anders aussieht als die jetzige.
Bislang haben Saskia Esken und Sie die SPD recht geräuschlos durch die Wirren der Ampel-Koalition geleitet. Nun gibt es erste Unzufriedenheit bei SPD-Ministerpräsidenten, die Linken in der Fraktion fordern mehr Profil. Wie gehen Sie damit um?
Klingbeil Wir haben in den letzten Monaten viele sozialdemokratische Projekte aus dem Koalitionsvertrag in der Regierung umgesetzt – etwa den 12 Euro Mindestlohn, die Kindergelderhöhung und das Bürgergeld. Aber die SPD ist eine eigenständige und lebendige Partei und denkt natürlich auch über diese Legislaturperiode hinaus. Dafür tragen Saskia Esken und ich die Verantwortung. Wir haben immer gesagt, mit dem Anlauf auf die nächste Bundestagswahl geht der Fokus wieder stärker von der Regierung auf die SPD. Das wird beim Parteitag im Dezember sichtbar werden, wo wir Antworten geben auf die Herausforderungen der Transformation und auf verteilungspolitische Fragen.
Also emanzipiert sich die Parteispitze vom Kanzler?
Klingbeil Darum geht es nicht. Ich bin sehr froh und stolz, dass wir den Bundeskanzler stellen, aber natürlich haben Partei und Regierung unterschiedliche Rollen. Ich bin weit davon entfernt, den Kompromiss immer mitzudenken. Ich habe vielmehr die Frage zu beantworten, wofür steht Sozialdemokratie pur. Wenn ich von der Abschaffung des Ehegattensplittings oder von 14 Euro Mindestlohn spreche, dann ist das sozialdemokratische Programmatik. Die wollen wir voranbringen. Doch das bedeutet nicht automatisch immer Streit. Gerade in der Lage, in der sich das Land befindet, mit den vielen Umbrüchen, die vor uns liegen, muss Politik Stabilität und Orientierung geben. Das kann ich nicht, wenn ich nur im Gegeneinander bin. Teamspiel in der SPD bedeutet auch, dass es unterschiedliche Rollen gibt.