Sigmar Gabriel SPD-Chef entdeckt den Steuerzahler

Berlin · Um die Sozialdemokraten in der Wählergunst steigen zu lassen, setzt Vizekanzler Sigmar Gabriel Angela Merkel bei der "kalten Progression" unter Druck. Und er verpasst seiner SPD einen wirtschaftsnahen Anstrich.

Das ist Sigmar Gabriel
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Für die Chefstrategen der SPD ist es ein Graus: Da machen sie dem Wähler ein Geschenk nach dem anderen - und dennoch verharren sie mit der Partei in Umfragen auf dem wenig zufriedenstellenden Niveau der Bundestagswahl. Bisher entschuldigten führende Sozialdemokraten das Dilemma, indem sie darauf verwiesen, der Mindestlohn und die Rentenbeschlüsse müssten erst bei den Menschen spürbar werden. Nun scheint SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht mehr nur bangen und abwarten zu wollen.

Gabriel will den Deutschen zeigen, dass die SPD mehr kann, als den "Betriebsrat der Nation" zu spielen, wie er es am Wochenende im ZDF formuliert hat. Der Vizekanzler, Wirtschaftsminister und Macher in Sachen Energiewende gibt sich als die Verkörperung sozialdemokratischer Wirtschaftskompetenz. Und um das zu unterstreichen, setzt er nun sogar seine Koalitionspartnerin Angela Merkel (CDU) offen unter Druck.

Das Thema der Wahl: die "kalte Progression", Schreckgespenst aller Menschen mit mittleren Einkommen (siehe Infokasten) - und Achillesferse der Kanzlerin. Denn während Gabriel wegen erwarteter Mehreinnahmen im Bereich der Sozialabgaben durch den Mindestlohn finanziellen Spielraum sieht, die "kalte Progression" auch ohne Steuererhöhungen abzubauen, hat Merkel die Existenz solcher Spielräume stets zurückgewiesen.

Doch dieses Mal scheint es für die Kanzlerin und CDU-Chefin nicht so einfach zu sein, die Debatte im Keim zu ersticken. Denn inzwischen werden SPD-ähnliche Forderungen vom Arbeitgeber- und auch Arbeitnehmerflügel der Union aufgegriffen. Das Thema soll auf dem CDU-Parteitag im Dezember auf die Tagesordnung. Im "Spiegel" meldeten sich jetzt auch christdemokratische Ministerpräsidenten zu Wort, die sich eine Entlastung mittlerer Einkommen auf diesem Wege gut vorstellen können. Allerdings beharren sie mit dem Argument der Schuldenbremse darauf, dass ihre Haushalte dadurch nicht zusätzlich belastet werden dürften.

Und selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zeigte sich recht offen für den Abbau der "kalten Progression". Wenn der Haushalt dies zulasse und die Koalitionspartner sich einig seien, stehe einer Entlastung nichts im Wege, sagte Schäuble.

Unter Schwarz-Gelb scheiterte dies letztlich an SPD und Grünen im Bundesrat. Doch die FDP unterstellt Schäuble bis heute, der eigentliche Bremser gewesen zu sein. Parteichef Christian Lindner sagte unserer Zeitung: "Die CDU hat die Abschaffung der ,kalten Progression' schon bei zwei Bundestagswahlen selbst gefordert. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel die CDU jetzt zu dieser Steuererleichterung treiben muss." Und Lindner weiter: "Auch die anderen Parteien im Bundestag haben in dieser Frage keine klare Haltung. Der Schlingerkurs des Bundestages bei Steuererleichterungen für Bürger zeigt, wie sehr die FDP dort fehlt."

Tatsächlich ist noch nicht ausgemacht, ob Gabriel mit der Bekämpfung der "kalten Progression" beim Wähler einen Volltreffer landen wird. Hinzu kommt, dass er mit dem Thema auch innerhalb seiner Partei einen riskanten Kurs fährt. Denn der Abbau der "kalten Progression" ist kein Lieblingsprojekt der SPD; linke Sozialdemokraten halten davon mitunter gar nichts. Parteivize Ralf Stegner etwa sagte zuletzt: Die "kalte Progression" sei ungerecht - eine milliardenschwere Lösung dürfe es aber "nicht auf Pump oder zulasten von Bildung, Sozialem oder Infrastruktur" geben.

Unterdessen schaltete sich auch der Bund der Steuerzahler in die Debatte ein. Nach Berechnungen des Verbandes müssen die Deutschen aktuell 51,5 Prozent ihres Einkommens an den Staat abgeben. "Die Abschaffung der ,kalten Progression' ist überfällig", sagte der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel.

(jd,)
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