Anhaltende Kämpfe in der russischen Region Kursk Sind Waffenlieferungen an die Ukraine legitim, wenn damit ein Gegenangriff auf Russland erfolgt?

Berlin/Düsseldorf · Wegen des ukrainischen Gegenangriffs im russischen Gebiet Kursk herrscht dort Ausnahmezustand. In Deutschland wird nun über die Waffenlieferungen an die Ukraine diskutiert. Rechtlich ist die Sache eindeutig, politisch allerdings nicht.

Dieses, am 6. August vom amtierenden Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, über seinen Telegrammkanal veröffentlichtes Foto zeigt ein beschädigtes Haus nach Beschuss.

Dieses, am 6. August vom amtierenden Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, über seinen Telegrammkanal veröffentlichtes Foto zeigt ein beschädigtes Haus nach Beschuss.

Foto: dpa/Uncredited

Die russischen Streitkräfte kämpfen im Gebiet Kursk nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau weiter gegen einen Vormarsch ukrainischer Truppen. Jetzt wird in Deutschland debattiert, ob dabei von der Bundesregierung gelieferte Panzer und andere Waffen zum Einsatz kommen dürfen und was das für die künftige Unterstützung der Ukraine bedeutet. Hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was ist bekannt über den Angriff ukrainischer Soldaten auf russischem Boden?

Pro-ukrainische Kräfte führen in der Region Kursk nach Angaben der russischen Armee seit mehreren Tagen eine Offensive mit rund 1000 Soldaten und mehr als zwei Dutzend gepanzerten Fahrzeugen und Panzern aus. Inzwischen gibt es nach russischen Angaben auch ukrainische Angriffe in der benachbarten Region Lipezk. Die russischen Militärangaben sind von unabhängiger Seite nicht überprüfbar. In der Ukraine hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj angesichts des Vormarsches in der Region Kursk gesagt, dass Russland nun den Krieg selbst zu spüren bekommen solle. Zu den Details des Angriffs äußerte sich Kiew bisher aber nicht. Die Ukraine hat im Zuge ihres Abwehrkampfes gegen Russland immer wieder mit Drohnen und Raketen den Nachbarstaat attackiert. Eine große Bodenoperation regulärer Truppen wie derzeit in Kursk gibt es zum ersten Mal.

Ist die ukrainische Offensive vom Völkerrecht gedeckt?

Der Angriff der Ukraine auf russisches Territorium ist vom Völkerrecht gedeckt. Grundlegend dafür ist Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der das Recht auf Selbstverteidigung regelt. Danach darf ein Staat, der von außen angegriffen wird, sich mit einer Armee oder sogar einem Staatenbündnis gegen den Aggressor wehren. Es steht zwar nicht ausdrücklich drin, dass dies auch Gegenangriffe auf das Territorium des Angreifers beinhaltet. Aber das ergibt sich aus den allgemeinen Regeln des Völkerrechts und der Interpretation dieses Artikels durch Völkerrechtsexperten.

Danach müssen Verteidigungsmaßnahmen notwendig und verhältnismäßig sein. Das heißt, der Gegenangriff muss der Ukraine helfen, das Land zu verteidigen. Das dürfte im Hinblick auf den erfolgreichen Vormarsch der Russen im Donbass gewährleistet sein. Mit der Gegenattacke könnte sich Kiew Luft verschaffen und russische Truppen binden. Allerdings müssen solche Ausfälle in das feindliche Territorium auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Ob das bei den Angriffen auf Belgorod oder die Grenzdörfer bei Kursk der Fall ist, lässt sich nicht eindeutig bestimmen.

Gesichert ist, dass Frauen und Kinder bei den ukrainischen Angriffen ums Leben kamen. Das stimmt bedenklich, denn Angriffe auf zivile Ziele sind vom Völkerrecht ausdrücklich nicht gedeckt. Sie können als schrecklicher Kollateralschaden manchmal unbeabsichtigt sein. Aber hier müsste sehr genau untersucht werden, warum Zivilpersonen zu Opfern der Gegenangriffe wurden.

Kann das die Eskalationsspirale beschleunigen?

Hier sind mehrere Szenarien denkbar. Der renommierte Experte für Geopolitik, Alexander Libman, der an der FU Berlin unterrichtet, hält drei Denkmodelle für möglich. Nach dem ersten geht es der Ukraine bei ihren Gebietsbesetzungen nur darum, sich einen Vorteil bei möglichen Verhandlungen zu verschaffen. Das ist laut Libman die „harmloseste Variante“. Ist das die Absicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, besteht keine Gefahr, dass seine Truppen zu weit gehen. Der Gegenangriff wäre dann ein kühl kalkulierter Schritt. Aber der Politikwissenschaftler Libman gibt zu bedenken: „Es ist unsicher, ob das gelingt.“

Das zweite Szenario ist schon kritischer. Danach will die Ukraine dem Westen zeigen, dass sie noch standfest ist und sich verteidigen kann. Gerade weil es im Donbass nicht zum Besten steht, könnte der Westen Kiew drängen, russischen Forderungen nachzugeben. Mit dem Gegenangriff beweist die Ukraine danach ihre Schlagkraft.

Auch von dieser Aktion hält der Geostratege Libman wenig. „Sie wird bei den westlichen Unterstützern nicht verfangen“, warnt der Berliner Wissenschaftler. Zumal die Zahl der zivilen Opfer zu einem Schulterschluss zwischen Kremlchef Putin und der russischen Bevölkerung führt. Damit stärke der Angriff die Unterstützung der Russen für Putin. Das liege weder im Interesse der Ukraine noch des Westens. Der Krieg könnte an Heftigkeit zunehmen, wenn es weitere zivile Opfer gibt.

Nach der dritten Version ist der Adressat des Angriffs die heimische Bevölkerung der Ukraine. Selenskyj und seine Armeeführung wollen beweisen, dass die Soldaten noch zu eigenen Aktionen in der Lage sind. Für Libman ist das aber eher „eine Verzweiflungstat“. Denn für die Verteidigung der Ostfront bringt der Ausfall der Truppen an einer wenig bewachten Stelle der Grenze kaum etwas. Auch um neue Kräfte zu rekrutieren, dürfte der Angriff wenig taugen. Hier hat die Ukraine große Probleme. Zugleich reizt Selenskyj unnötig den Gegner. Putin könnte als Antwort die Generalmobilmachung beschließen. Dann würde die Lage für die Ukraine höchst brenzlig.

Welche der Szenarien zutreffen, ist wegen der wenigen Informationen über die Angriffe nicht eindeutig zu bestimmen. Es spricht aber einiges dafür, dass Selenskyj eher die eigene Bevölkerung oder seine Unterstützer beeindrucken will, als wirklich Russland in die Enge zu treiben.

Stimmt es denn, dass deutsche Panzer zum Einsatz kommen?

In einem russischen Militärbericht zum Fortgang der Kämpfe wird auch westliche Militärtechnik erwähnt. Zerstört worden seien etwa fünf Radschützenpanzer vom US-Typ Stryker. Von deutscher Technik war in dem Bulletin keine Rede. Medienberichten zufolge nutzt die ukrainische Seite bei dem Vorstoß allerdings von Deutschland gelieferte Waffen. So berichtete etwa die „Bild“-Zeitung von Marder-Schützenpanzern.

Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Offensive?

Zur Frage, inwiefern die Bundesregierung damit einverstanden wäre, gab es zunächst keine konkrete Stellungnahme. „Wir haben zu dem Sachverhalt widersprüchliche Berichte zur Kenntnis genommen“, erklärte eine Regierungssprecherin. Der Bundesregierung lägen dazu „keine eigenen Erkenntnisse“ vor. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums teilte auf Anfrage mit, „dass es erklärtes Ziel der Bundesregierung ist, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen“.

Wie fallen Reaktionen von Verteidigungspolitikern aus?

Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber (FDP), bekräftigte seine Auffassung, dass die Ukraine deutsche Waffen bei dem Vorstoß einsetzen könne. „Mit der Übergabe an die Ukraine sind es ukrainische Waffen“, sagte er unserer Redaktion. Das gelte für „jegliches Material“. Auch in der SPD-Fraktion sieht man das so. Verteidigungspolitiker Wolfgang Hellmich sagte auf Anfrage, mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sei das Territorium beider Länder Kriegsgebiet geworden. Auch er verwies auf das Völkerrecht. Die Eskalationsrisiken, „die jedem Krieg innewohnen“, behalte man im Blick, sagte Hellmich.

Kann das dazu führen, dass die Unterstützung der Ukraine mit westlichen Waffen an Rückhalt verliert und das Misstrauen gegenüber Selenskyj wächst?

Davon ist seitens der Bundesregierung nicht zu rechnen. Auch die Parteien der politischen Mitte im Bundestag werden absehbar an der Unterstützung der Ukraine auch mit deutschen Waffen festhalten. Die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht forderte hingegen ein Eingreifen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er müsse mit dem ukrainischen Präsidenten telefonieren und verlangen, dass keine deutschen Waffen bei den Vorstößen auf russisches Territorium zum Einsatz kommen, so Wagenknecht. Insbesondere in Ostdeutschland gibt es Vorbehalte gegen die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine.

(jd/kes/dpa/afp)