Interview mit Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann Sind Gewerkschaften noch zeitgemäß?

Düsseldorf · Gewerkschaften haben schon lange kein gutes Image mehr. Miefig, realitätsfern und unmodern werden sie genannt. Gerade große Gewerkschaften wie die IG Metall kranken auf der einen Seite an Querelen in den Führungsetagen und auf der anderen Seite an Mitgliederschwund. Im Gespräch mit RP Online gibt Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann eine Einschätzung.

Kritik für ihre Forderungen hagelt es aus allen politischen Lagern. Mancher behauptet gar, dass sie nachdem sie in der Vergangenheit zur Sicherung von Arbeitsplätzen und -einkommen durchaus nützlich waren, heute nicht mehr zeitgemäß sind. RP Online sprach darüber mit Prof. Dr. Ulrich von Alemann, Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.

Herr Professor von Alemann , woher rührt Ihrer Meinung nach die massive Krise, in der die Gewerkschaften hierzulande stecken?

von Alemann: Die Krise hat mehrere Ursachen: Sie ist einerseits hausgemacht, und drückt sich in schwindenden Mitgliederzahlen und dem gravierenden Nachwuchsproblem der Gewerkschaften aus. Andererseits hat sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in den letzten Jahrzehnten stark verändert. In einer immer globaler denkenden Welt müssen sich auch die Gewerkschaften wandeln und anpassen.

Die Gewerkschaften kämpfen gegen Schröders Reformkurs, wollen sich von der SPD distanzieren und haben den Kanzler erstmals nicht zu den Maifeierlichkeiten eingeladen. Doch gibt es für die Gewerkschaften überhaupt einen anderen politischen Partner als die SPD?

von Alemann: Das ist kaum zu erkennen. SPD und Gewerkschaften haben sich zwar in den letzten zehn Jahren entfremdet, weil die gemeinsamen Wurzeln einen immer geringeren Stellenwert einnehmen. Aber sie stehen sich gleichzeitig aufgrund dieses gemeinsamen Ursprungs immer noch sehr nahe. Allerdings haben sich die Gewerkschaften stets bemüht, zu allen Regierungen ein gutes Verhältnis zu haben. In den Gewerkschaftsführungen gibt es durchaus auch CDU-Mitglieder, beispielsweise aus der christlichen Arbeitnehmerschaft. Grundsätzlich verstehen sich Gewerkschaften als überparteiliche Organisationen, die parteiunabhängig die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Ein verbliebener harter Kern linker Gewerkschafter sucht allerdings nicht den Kompromiss mit den Parteien, sondern versteht sich als gesellschaftliche Gegenmacht.

Die Gewerkschaften kritisieren vor allen Dingen die geplante Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose und die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst. Gibt es von Seiten der Gewerkschaften denn alternative Vorschläge?

von Alemann: Gewerkschaften haben schon von je her die Schwierigkeit gehabt, dass sie den Entscheidungen von Unternehmen und Regierungen immer nur hinterher rennen können. Sie reagieren hauptsächlich auf Veränderungen und können selbst nur schwer neue Initiativen einbringen. Deshalb haben sie ja auch das Image der ewigen Nörgler und Verhinderer. Dennoch lassen sich den deutschen Gewerkschaften durchaus Kompromisse abringen. In Deutschland wird im internationalen Vergleich eher wenig gestreikt. So haben flexible Arbeitszeit- sowie Lohn- und Gehaltsregelungen zum Beispiel längst in die früher so starren Tarifverträge Einzug gehalten. Das anschließend häufig zu hörende Zähneknirschen macht die Gewerkschaften freilich nicht attraktiver.

Müssen sich die Gewerkschaften Ihrer Meinung nach selbst reformieren, damit sie weiterhin eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen können? Und wenn ja, wie muss diese Reformierung aussehen?

von Alemann: Die Gewerkschaften müssen sich noch stärker an den unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder orientieren und für diese attraktiver werden. Die Mitglieder sind die einzige Finanzquelle für die Gewerkschaften und die will umworben werden. Gewerkschaften sollten sich also als umfassende Dienstleister verstehen und nicht wie Ver.di oder die IG Metall immer noch zu oft als Gegenmacht. Die wenigsten werden heute noch Mitglied in der Gewerkschaft, weil sie eine ideologische Heimat suchen. Und mit Gegenmachtsideologie fängt man bestimmt keine neuen Mitglieder.

Was müssen die Gewerkschaften konkret tun, um dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken bzw. neue Mitglieder zu werben?

von Alemann: Sie sollten ihre Mitglieder in allen Bereichen exzellent beraten können und müssen das Angebot dieser Leistungen auch überzeugend vermitteln. Eine kompetente Rechtsberatung ist dabei genauso wichtig wie die Möglichkeit der hervorragenden Weiterbildung. Zu den Leistungen der Gewerkschaften gehört natürlich nach wie vor die Vertretung der Mitglieder in den Tarifverhandlungen. Diese Aufgabe kann ruhig energisch und kämpferisch erfüllt werden. Die Forderungen müssen nur realistisch bleiben, sodass die Mitglieder auch dahinter stehen können. Man hat letztes Jahr bei den Tarifverhandlungen der IG Metall im Osten gesehen, was passiert, wenn die Gewerkschaftsmitglieder die Forderungen ihrer Vertreter nicht mehr nachvollziehen können.

Wie können Gewerkschaften auch für Jüngere wieder attraktiv werden?

von Alemann: Um speziell ein jüngeres Klientel anzusprechen, ist es sinnvoll, jüngere Funktionäre und jüngere Vertrauensleute einzusetzen, die den jungen Leuten deutlich machen, dass hier ihre Sprache gesprochen und ihre Interessen vertreten werden. Wenn Jugendliche in den Gewerkschaften auf meist 50 bis 60-jährige Funktionäre treffen, ist klar, dass da wenig Freude aufkommt, Mitglied zu werden.

Wie bzw. wo sehen Sie die großen deutschen Gewerkschaften in 20 bis 30 Jahren?

von Alemann: Gewerkschaften haben schon immer an drei Stellen in der Gesellschaft eine große Rolle gespielt und werden dies auch in Zukunft tun: im Betrieb, in der Branche und in der Gesamtwirtschaft. Im Betrieb vertreten sie im Betriebsrat die Interessen ihrer Mitglieder; dasselbe tun sie in den Tarifverhandlungen der jeweiligen Branche und gesamtwirtschaftlich gesehen sollten sie sich als Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung verstehen. In 20 bis 30 Jahren werden die drei großen Gewerkschaften IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie und Ver.di sicher kleiner sein als heute, während sich die heute noch verbliebenen Klein- und Kleinstgewerkschaften zu größeren Organisationen zusammenschließen werden.

Zumindest wäre eine solche Entwicklung wünschenswert. Gleichzeitig müssen die Gewerkschaften endlich ihr Verhältnis zum Dachverband DGB klären, der notwendig bleibt, wenn es weiterhin eher viele kleinere Gewerkschaften gibt. Sollten irgendwann allerdings nur noch vier oder fünf große Gewerkschaften nebeneinander existieren, wird die Aufgabe eines Dachverbandes meiner Meinung nach ganz neu diskutiert werden müssen. Wenn die Gewerkschaften es schaffen, gute Dienstleister für ihre Mitglieder zu sein, wird es sie auch noch in 30 Jahren geben.

Das Gespräch führte Sabine Klüber

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