Silvester-Krawalle in Berlin und NRW Wer waren die Täter und was ist jetzt zu tun?

Berlin · Nach den Angriffen auf Polizei und Feuerwehrleute mit Böllern und Raketen in der Silvesternacht fragen sich viele: Was tun, damit wir am 31. Dezember 2023 nicht vor demselben Problem stehen?

Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk.

Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk.

Foto: dpa/Julius-Christian Schreiner

Ein verkokelter weißer Bus mit platten Reifen und eingeschlagenen Fenstern unter einer rußgeschwärzten Durchfahrt an der Sonnenallee - es ist das vielleicht schockierendste Relikt der Berliner Silvesternacht. „Wenn man sowas vor seiner Haustür sieht, ist das schon krass“, sagt der 30-Jährige John, der in Neukölln nur wenige Meter entfernt wohnt. Er war an Silvester bewusst nicht im Viertel. Zu gefährlich. Aber er hofft, dass sich jetzt etwas ändert. „Ich will nicht mit Angst durch mein Viertel laufen.“

Der abgefackelte Bus, die Angriffe mit Raketen und Böllern auf Einsatzkräfte, Polizisten und Feuerwehrleute, die um ihr Leben fürchteten: Die Gewaltexzesse in der Hauptstadt sorgen bundesweit für Entsetzen. Ging es in ersten Reaktionen um mögliche Böllerverbote, dreht sich nun die Debatte immer mehr um Täter und Ursachen. Wer sind die Kriminellen hinter diesen Krawallen - und was ist nun zu tun?

Offizielle Daten über die Angreifer sind zunächst spärlich, werden aber am Dienstag präzisiert. Demnach wurden im Zusammenhang mit den Krawallen 145 Menschen vorläufig festgenommen, die meisten davon Männer. Ursprünglich war die Zahl mit 159 angegeben worden. Das liege an Doppelzählungen, erläutert ein Polizeisprecher. Die Zahlen müssten auch immer noch als vorläufig angesehen werden. Alle Verdächtigen seien nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen wieder auf freien Fuß gekommen.

Laut Polizei wurden 18 verschiedene Nationalitäten erfasst. 45 der Verdächtigen hätten die deutsche Staatsangehörigkeit. Danach folgten 27 Verdächtige mit afghanischer Nationalität und 21 Syrer.

Weil zunächst wenige Angaben zu den Verdächtigen vorlagen, hatte der Berliner Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf, amtliche Zurückhaltung vermutet. „Man kann die Tatsachen nicht wegleugnen“, sagt Pfalzgraf der Deutschen Presse-Agentur. „Man muss sich ja nur die Videos anschauen. Da sieht man genau, mit was für Tätern wir es zu tun haben. Das sind überwiegend junge Männer mit Migrationshintergrund.“ Und er fügt hinzu: „Das ist keine neue Erkenntnis. Es ist seit 20 Jahren so, dass Gewaltkriminalität jung und männlich ist.“

Damit nimmt wieder eine Debatte Fahrt auf, die Deutschland nach den sexuellen Übergriffen in Köln zum Jahreswechsel 2015/2016 erlebte. Die Tätergruppen würden nicht benannt, sondern von der Politik verschleiert, mutmaßt der AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio, der auch gleich eine „grundsätzliche Verachtung vieler Migranten gegenüber dem deutschen Staat“ konstatiert. Im beginnenden Wahlkampf vor der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar dürfte das Thema noch hochkochen.

Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel (SPD), scheut sich nicht zu sagen, dass es auf den Bildern der Silvester-Gewalt oft um junge Männer mit Migrationsgeschichte geht. Doch für ihn ist das nicht der Punkt. „Denn man muss sich vor Augen führen, dass auch die Betroffenen dieser Gewalt Menschen aus dem Quartier sind, also auch oft Menschen mit Migrationshintergrund“, sagt Hikel der dpa.

Jing Hua Wang etwa lebt und arbeitet seit fast 30 Jahren in Neukölln. Auch er ist an diesem Dienstag kurz an dem ausgebrannten Bus in der Sonnenallee, um sich ein eigenes Bild zu machen. Als ehemaliger Restaurantbesitzer kennt der 60-Jährige die Gegend genau. „Was sollen denn unsere Kinder denken, wenn sie hier vorbeilaufen?“, sagt der Neuköllner. „Das wirft auf unsere Stadt kein gutes Licht.“ Im Viertel habe der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Für Wang ist das ein möglicher Grund für die vermehrten Krawalle in Neukölln.

Wegen der Krawalle wurden nach Polizeiangaben insgesamt 355 Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. Ermittelt werde unter anderem wegen Landfriedensbruchs, Angriffs auf und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Rettungskräfte, gefährlicher Körperverletzung und Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion.

Bezirksbürgermeister Hikel findet es aber falsch, jetzt eine Debatte über das angebliche Integrationsversagen aufzumachen. „Die Integrationsbemühungen und die Teilhabemöglichkeiten funktionieren ja teils sehr gut“, sagt der SPD-Politiker. Bessere Bildung, die Stärkung des Miteinander, Selbstbefähigung, Quartiersmanagement, Nachbarschaftshilfen und Kiezfeste: „Das wird durchaus wertgeschätzt und das funktioniert auch an vielen Stellen sehr gut.“

Aber einzelne Personen erreiche man einfach nicht. „Die behaupten, dass hier eigene Regeln gelten, dass der Kiez ihnen gehört“, weiß der Neuköllner. „Das sind oft Jugendliche, die in der Schule nicht gerade Erfolgserlebnisse hatten und die dann ohne Perspektive dastehen.“ Die Corona-Pandemie könnte dies noch verstärkt haben, weil Schulen und Jugendeinrichtungen zeitweise geschlossen waren, vermutet Hikel.

Klar ist aber für ihn auch: Wo Kriminalität und Gewalt herrschen, muss der Staat durchgreifen. „Das erste ist klarzumachen, dass der öffentliche Raum sicher ist.“ Das sei der Staat den Bewohnern und Geschäftsleuten im Kiez schuldig. „Diese Taten müssen strafrechtlich konsequent verfolgt werden. Rettungskräfte in einen Hinterhalt zu locken, das ist hochkriminelles Verhalten. Da müssen Gerichte sehr konsequent und sehr schnell Urteile herbeiführen.“

Ob und wie die Justiz das macht, auch dazu liegen auf Anhieb keine Daten vor. Die Zahl der Verfahren zu Angriffen auf Polizisten und Feuerwehrleute in den vergangenen Jahren könnten kurzfristig nicht erhoben werden, erklärt Justizsprecher Sebastian Büchner auf Anfrage. „Spezifisch Verfahren, bei denen Böller zum Einsatz kamen, können wir erst recht nicht filtern.“ Er verspricht aber für die nächsten Tage eine Auswertung der Verfahren zu Anzeigen nach Angriffen auf Einsatzkräfte in früheren Jahren.

Polizeigewerkschafter Pfalzgraf findet die Strafverfolgung oft zu milde. „Solche Leute müssen konsequent bestraft werden, und die Strafe muss auf dem Fuße folgen, nicht erst ein halbes Jahr später“, sagt er. „Die müssen einen Richter sehen.“ Bisher landeten von 100 straffälligen Jugendlichen durchschnittlich nur zwei tatsächlich vor einem Richter, führt der Gewerkschafter an. Alle anderen Verfahren würden anders beendet oder eingestellt.

Neben der Repression plädiert Pfalzgraf aber auch klar für bessere Prävention der Polizei in Brennpunkten - etwa mit Vereinen oder Moscheen oder auch mit den Familien. „Wer nicht auf der Straße ist, der kann auch keinen Mist machen.“ Die jahrelang exzessive Gewalt rund um den 1. Mai habe die Berliner Polizei mit immer wieder verbesserten Konzepten und Vorbeugung in den Griff bekommen. „Ich glaube, dass wir das auch über die Silvesterfeiertage hinbekommen können“, sagt er.

(boot/dpa)
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