Sigmar Gabriel verzichtet auf Kandidatur "Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht"

Berlin · Es galt als ausgemacht, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidat gegen Angela Merkel antritt. Dann aber traf er eine Entscheidung für seine Partei und für sein Privatleben.

Sigmar Gabriel will nicht Bundeskanzler werden: Reaktionen der Politik
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So reagiert die Politik auf Gabriels Rückzug

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Foto: dpa, gam kde axs

Sigmar Gabriel ist Segler. Er kennt das: Auf hoher See kündigt sich ein Sturm oft harmlos an. Der Wind frischt auf, ein paar dunkle Wolken ziehen heran. Dem Anschein zum Trotz: Wenn man dann nicht sofort die Segel refft und die Sicherheitsleinen anlegt, macht der Sturm mit einem, was er will.

Der auffrischende Wind war im Regierungsviertel seit dem Wochenende spürbar. Das Gerücht machte sich breit, dass es mit der Kür des SPD-Kanzlerkandidaten doch schneller gehen könne als geplant. Gabriel selbst entfachte den Sturm. Er gab dem "Stern" ein Interview, in dem er die Gründe für seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur nannte. Zugleich waren für Dienstagnachmittag Sondersitzungen der SPD-Spitze anberaumt worden.

Ein Interview mit einer solchen Brisanz lässt sich im Berliner Regierungsviertel etwa so gut hüten wie ein Eimer Fleisch im Raubtierkäfig. Am frühen Nachmittag berichtete der Branchendienst "Meedia", was der "Stern" zu veröffentlichen gedenkt, samt Gabriel-Bild von der Titelseite des Magazins. Danach gab es kein Halten mehr.

Martin Schulz stellt sich der SPD-Fraktion vor
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"Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht", sagte Gabriel dem Nachrichtenmagazin. Schulz stehe "für einen Neuanfang. Und darum geht es bei der Bundestagswahl." Er betonte, um einen Wahlkampf wirklich erfolgreich zu führen, gebe es zwei Grundvoraussetzungen: "Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichendem Maße zu."

Diese Botschaft hatte schon die Runde gemacht, als Gabriel um 15 Uhr vor die verdatterten Abgeordneten der Fraktion trat. An den wartenden Journalisten ging er vorbei. "Ich werde Ihnen jetzt nichts sagen", raunzte er und verschwand im Fraktionssaal.

Abgeordnete danken Gabriel mit minutenlangem Applaus

Fraktionschef Thomas Oppermann gab sich wenige Minuten zuvor bei seinem üblichen Medienstatement ebenfalls zugeknöpft, drinnen erteilte er Gabriel dann schnell das Wort: Der Parteichef habe den Abgeordneten etwas zu sagen. Und das tat Gabriel dann dem Vernehmen nach sehr ruhig und aufgeräumt. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, seit Monaten habe er hin und her überlegt. Am Ende habe er die Entscheidung aber für die Partei getroffen.

Klar sei, dass Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz von einer Person ausgeübt werden müssten. Daher folge aus der Entscheidung für Martin Schulz als Kanzlerkandidat auch sein Rücktritt als Parteichef. Seit 2009 war er SPD-Vorsitzender gewesen.

Die Abgeordneten dankten es Gabriel mit minutenlangem Applaus, stehend. Oppermann würdigte Gabriel für dessen Dienste an der Partei. Für seine Erfolge, die SPD nach den Agenda-Jahren wieder zusammengebracht zu haben, für die erfolgreiche sozialdemokratische Politik als Juniorpartner in einer großen Koalition unter Merkel.

Gabriel wurde Respekt gezollt, sich gegen eigene Interessen zu dieser Entscheidung durchgerungen zu haben. Die einen, die lieber Gabriel im Rennen gegen Merkel gesehen hätten, zeigten sich traurig. Die anderen waren erleichtert, dass die Entscheidung nun für Martin Schulz gefallen war.

Doch das Verfahren, wie die Nachricht an die Öffentlichkeit gelangte, löste auch Verstimmung bei zahlreichen Abgeordneten aus. Von "suboptimal" bis "peinlich" reichten die Einschätzungen, einer nahm sogar das Wort der "Sturzgeburt" in den Mund.

Viele Abgeordnete lasen erst wenige Minuten vor Beginn der Sitzung auf ihren Smartphones von Gabriels geplanter Rochade, mit der er sich selbst aus der ersten Reihe nimmt. "Ich habe es erfahren, als ich das Foyer des Reichstages betrat", sagte einer. Das habe ihn schon sehr überrascht. "Aus Medienberichten über ein noch unveröffentlichtes Interview zu erfahren, dass der Parteivorsitzende die Kandidatur abgibt, empfinde ich als sehr unbefriedigend", sagte zum Beispiel der Vorsitzende der rheinland-pfälzischen Landesgruppe, Gustav Herzog.

Ihm sei zudem die Frage nicht beantwortet worden, ob die Berichte zuträfen, wonach Gabriel Außenminister werde. "Da war von der Parteiführung schon keiner mehr da", sagte Herzog. Er erwarte, dass er und die anderen Abgeordneten noch in der Nacht erfahren würden, welche weiteren Personalentscheidungen am Abend im Präsidium fielen. "Das will ich nicht erst am nächsten Tag in den Zeitungen lesen."

Lange musste er darauf nicht warten. Am Abend verkündete Gabriel auch die übrigen Personalentscheidungen: Er selbst werde Außenminister, die bisherige Staatssekretärin Brigitte Zypries übernehme als seine Nachfolgerin die Ressortleitung im Wirtschaftsministerium. Am heutigen Mittwoch wird es eine Fraktionssondersitzung dazu geben.

Lauterbach: "Das Ergebnis zählt, und das ist richtig"

Diskussionen gab es am Dienstag vor dem Fraktionssaal aber auch über die für diesen Sonntag geplante Inszenierung des Kanzlerkandidaten im Willy-Brandt-Haus. Herzog: "Es war der Parteiführung doch klar, dass das Interview vor Sonntag erscheinen würde." Wozu brauche es dann noch eine solche Inszenierung?

Auch aus dem Parteipräsidium hieß es, man hätte das eine Nummer kleiner machen können. Andere hielten dagegen. "Das ist doch wie bei einer Operation", sagte der stellvertretende Fraktionschef Karl Lauterbach: Am Ende sei das Verfahren nicht so entscheidend. "Das Ergebnis zählt, und das ist richtig", so Lauterbach.

Gabriel hatte es sich nicht leicht gemacht. Monatelang hatte er mit sich und seinen Umfragewerten gehadert, führte Gespräche mit Mitgliedern der Parteispitze. Am vergangenen Samstag habe er sich mit Martin Schulz getroffen und ihm seinen Vorschlag unterbreitet, sagte er Dienstagabend. Den Antrag für den Wechsel des Parteivorsitzes und der Kanzlerkandidatur brachte Gabriel gemeinsam mit NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz ein.

Bei der Wiederwahl zum Parteichef Ende 2015 abgestraft

Aber nicht nur die politische Erwägung, dass Schulz der Partei als Kanzlerkandidat nützlicher sein kann als Gabriel selbst, trieb den Vizekanzler zu dieser Entscheidung. Gabriel wird im Frühling auch noch einmal Vater; er ist jetzt 57 Jahre alt. "Heute bin ich wirklich ein glücklicher Mensch. Ob ich es auch wäre, wenn ich meine Familie noch weniger sehen würde als jetzt schon, weiß ich nicht", sagte er.

Und schließlich konnte er sich des Rückhalts in der Partei nicht mehr sicher sein. Bei der Wiederwahl zum Parteichef hatten sie ihn Ende 2015 mit nur 74 Prozent abgestraft. Sein Verhältnis zur Partei bilanzierte Gabriel auch und nahm dabei Bezug auf die Mitgliederbefragung zur großen Koalition 2013.

"Nicht wenige hadern bis heute mit mir, weil ich damals mehr als 75 Prozent der SPD-Mitglieder davon überzeugen konnte, dass die SPD regieren muss, wenn sie den Mindestlohn, mehr Kitas, sozialen Wohnungsbau und nicht zuletzt mehr Chancengerechtigkeit für Frauen durchsetzen wollte."

(jd / qua)
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