Flüchtlingspolitik Sigmar Gabriel wirft EU Versagen vor
Berlin · Innenminister Thomas de Maizière will am heutigen Mittwoch eine deutlich nach oben korrigierte Prognose für die Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge in diesem Jahr bekanntgeben. Vizekanzler Sigmar Gabriel mahnt schnelle Entscheidungen an.
Der Zustrom an Flüchtlingen nach Deutschland hat die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der UN, Antonio Guterres, forderte Entlastung für Deutschland. "Wir müssen die Verantwortung auf mehr Schultern in Europa verteilen", sagte Guterres der "Welt". Es sei langfristig "nicht tragbar, dass nur zwei EU-Länder — Deutschland und Schweden — mit leistungsfähigen Asylstrukturen die Mehrheit der Flüchtlinge aufnehmen."
Die große Koalition sieht Europa in der Pflicht. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) warf Europa vor, dass es in der Flüchtlingspolitik "kläglich versagt". Er bezeichnete es als "Schande", dass innerhalb der Europäischen Union viele Länder "entweder keine oder nur eine sehr geringe Zahl an Flüchtlingen" aufnehmen wollten. "Eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa ist die einzig vernünftige Lösung", sagte Gabriel unserer Redaktion. Auch CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt forderte, die EU stärker in die Pflicht zu nehmen.
Die Bundesregierung will am heutigen Mittwoch eine korrigierte Prognose veröffentlichen, wie viele Flüchtlinge für 2015 in Deutschland erwartet werden. Die Zahl könne bei 650.000 bis 750.000 liegen, berichtet das "Handelsblatt" unter Berufung auf Regierungskreise. Die bisherige Prognose der Regierung liegt bei 400.000 Neuankömmlingen. Schon in der vergangenen Woche kündigte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) an, dass diese Zahl deutlich überschritten werde.
SPD-Chef Gabriel mahnte schnelle Entscheidungen an, um die Städte und Gemeinden bei der "menschenwürdigen Unterbringung der Flüchtlinge" zu unterstützen. "Wir müssen verhindern, dass die Städte vor die Wahl gestellt werden: Entweder anständige Versorgung der Flüchtlinge oder Sanierung der Schule oder Förderung der Schwimmhalle. Denn solche Alternativen wären katastrophal für die Akzeptanz der Flüchtlinge", sagte Gabriel unserer Redaktion. Er forderte auch eine Beschleunigung der Asylverfahren und dass die "übrigen Länder des westlichen Balkans" sichere Herkunftsländer würden.
Hasselfeldt sprach sich für eine Überprüfung der deutschen Asylstandards aus. "Für viele Asylbewerber aus Südosteuropa ist Deutschland wegen seiner hohen Standards und finanziellen Unterstützung besonders attraktiv. Dies ist daher zu überprüfen." Es sei auch Aufgabe der EU, für die gleichen Standards bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern in allen Mitgliedstaaten zu sorgen, um das bestehende Gefälle zu verringern. Selbst die Kirchen halten ein Umdenken in der Asylpolitik für notwendig. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki forderte eine konsequente Abschiebung von Flüchtlingen vom Westbalkan: "In aller Regel können Albaner, die zu uns kommen, sich nicht auf das Asylrecht des Grundgesetzes berufen."
Derweil fordert der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Thomas Strobl (CDU), eine "konsequente Umstellung auf Sachleistungen" für Flüchtlinge. Der Schlüssel in der Asylpolitik liege "in einer klaren Unterscheidung zwischen wirklich Schutzbedürftigen und der großen Zahl derer, die aus anderen Gründen nach Deutschland kommen", sagte Strobl unsrerer Redaktion. "In den Verhandlungen mit den Ländern müssen wir deshalb zu einer Erweiterung des Kreises der sicheren Herkunftsstaaten; einer konsequenten Umstellung auf Sachleistungen für alle Bewerber; dem Verbleib in der Erstaufnahmeeinrichtung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens sowie einer konsequenten Beendigung des Aufenthaltes abgelehnter Asylbewerber kommen."
Der Druck auf Europa wächst von Tag zu Tag. Nach Angaben der UN trafen allein im Juli mehr Flüchtlinge in Griechenland ein (50.242) als im gesamten Jahr 2014 (43.500). Die Vereinten Nationen mahnten Griechenland trotz der eigenen Schwierigkeiten, die Versorgung der Flüchtlinge besser zu organisieren.
Der Städte- und Gemeindebund NRW will heute ein Notprogramm gegen einen "Asylnotstand in den Kommunen" beschließen. Hauptgeschäftsführer Bernd Schneider wird in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit den Worten zitiert: "Der Bund muss in die Erstaufnahme einsteigen, damit es in einzelnen Kommunen nicht bald zu Zuständen wie auf der griechischen Insel Kos kommt."