Interview mit SPD-Chef Sigmar Gabriel "SPD braucht mehr Selbstbewusstsein"

Berlin · Eigentlich gehört SPD-Chef Sigmar Gabriel mittwochs seiner Familie. An diesem Mittwoch vor den Ostertagen helfen aber die Schwiegereltern zu Hause, und der Minister kann noch ein paar Akten in seinem Berliner Büro abarbeiten. Zum Interview mit unserer Redaktion erscheint ein entspannter SPD-Chef, den die schwachen Umfragen und der schwelende Streit in der Koalition scheinbar wenig stören. Auch zur Kanzlerkandidatur äußert sich Gabriel gelassen.

Das ist Sigmar Gabriel
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Deutschland hält nach dem Germanwings-Absturz immer noch den Atem an. Was waren Ihre Gedanken?

Gabriel Wer dabei nicht geschockt und tief traurig ist, hätte wohl kein Herz in der Brust. Es ist eine unfassbare Tragödie. Als die Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft, mich anrief und von der Schulklasse berichtete, die unter den Opfern ist, dachte ich sofort: Wie müssen sich die Eltern fühlen? Man denkt auch an die eigenen Kinder, die man ja auch zu Schüleraustauschen lässt. Wenn man später erfährt, dass offenbar ein kranker Mensch den Absturz herbeigeführt und 149 Menschen in den Tod gerissen hat, dann ist das unvorstellbar.

Welche Rolle haben Politiker in einer solchen Situation?

Die Liste der Streitthemen in der großen Koalition
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Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Gabriel Zur Politik gehört auch, dass man versucht, Menschen zur Seite zu stehen. Das ist nicht viel und kann den Verlust nicht mindern. Und doch ist Mitmenschlichkeit und Anteilnahme aus meiner Sicht wichtig. Seelischen Beistand leisten und vor allem zuhören. Das haben Frau Kraft, Frau Merkel, Herr Steinmeier und andere in den ersten Tagen sehr angemessen gemacht, finde ich.

Aus der Politik kommen reflexhaft Vorschläge für neue Gesetze.

Gabriel Nach dem, was wir heute wissen, gab es kein technisches Versagen. Da war ein Mensch offenbar mit der Wahnvorstellung am Werk, mit seinem Tod in die Ewigkeit einzugehen, indem er 149 Menschen mitnimmt. Natürlich wird jetzt alles geprüft, wie man auch solche bislang unvorstellbaren Fälle ausschließen kann. Aber wir müssen auch ehrlich bleiben und zugeben: absolute Sicherheit können wir nicht garantieren.

Das private Umfeld ist bei solchen Tragödien immer der Ort für Reflektion. Halten Sie eigentlich Ihr Versprechen ein, trotz Ihrer Ämter genügend Zeit bei der Familie zu sein?

Gabriel Für mich ist meine Familie der wichtigste Ort in meinem Leben. Viel wichtiger als alle Ämter oder Positionen. Und natürlich haben wir auch zuhause viel über diese Tragödie gesprochen. Aber zu Ihrer Frage: Wir führen das Interview an einem Mittwochnachmittag. Da wollte ich eigentlich meine Tochter aus der Kita abholen. In dieser Woche vor Ostern ist das aber kein Problem. Die Schwiegereltern sind da.

Kommen wir zum Alltag in der großen Koalition. Man hat den Eindruck, dass die SPD-Minister leiden.

Gabriel Wie kommen Sie darauf?

Bundesminister: Das Kabinett der großen Koalition
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Foto: RP. DPA

Justizminister Maas muss gegen seinen Willen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung machen. Familienministerin Schwesig kämpft allein für mehr Geld für Alleinerziehende. Und Arbeitsministerin Nahles muss den Mindestlohn nachbessern.

Gabriel Ich muss Sie enttäuschen. Alle drei Punkte sind falsch. Die Entlastung für Alleinerziehende, die Manuela Schwesig und die SPD wollen, wird kommen. Am Mindestlohn wird nichts geändert. Und Heiko Maas setzt einen SPD- Parteitagsbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung um, den wir schon Ende 2011 gefasst haben. Wir sorgen jetzt dafür, dass wir ein verfassungskonformes Gesetz machen. Hätten wir das bereits zum Zeitpunkt der ersten NSU-Morde gehabt, hätten wir weitere vermutlich verhindern können. Deshalb werden Kommunikationsdaten auch nur für schwerste Straftaten und immer nur unter dem Vorbehalt eines Gerichtsbeschlusses für die Strafverfolgung zugänglich sein. Es ist wohl eher umgekehrt so, dass es Unruhe bei CDU und CSU gibt, weil sie so viele SPD-Vorhaben in den letzten zwölf Monaten beschließen mussten: Mindestlohn, ein Milliardenprogramm für Kitas und Ganztagsschulen, die Mietpreisbremse, die Frauenquote oder die abzugsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Bevölkerung jedenfalls scheint ganz zufrieden damit zu sein. Und das ist am Ende das Wichtigste.

Danach fragen wir die CDU-Politiker dann gerne, wenn wir ihnen gegenübersitzen...

Gabriel Ich will nur sagen: Bei uns leidet niemand. Im Gegenteil: Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben.

Werden Sie beim Mindestlohn noch Korrekturen machen?

Das Bundeskabinett im Netz-Check
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Foto: Screenshot Facebook

Gabriel Wir werden nichts am Mindestlohn ändern.

Was soll Arbeitsministerin Andrea Nahles dann prüfen?

Gabriel Andrea Nahles wertet aus, was es an Hinweisen über den bürokratischen Aufwand zur Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns gibt. Es kann sein, dass wir da Dinge vereinfachen können. Aber eines ist klar: Wenn man ein Gesetz macht, muss man es auch durchsetzen.

Gerade kleine Familienbetriebe werden durch die neue Bürokratie unnötig belastet.

Gabriel Auch das ist eine Behauptung, die in ihrer Verallgemeinerung falsch ist: Erstens sind nur neun Branchen von besonderen Kontrollen betroffen. Das sind die Branchen, die mit gutem Grund im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz aufgeführt sind. Und zweitens dürfte die Dokumentation von Arbeitszeiten auch vor dem Mindestlohngesetz die Regel und nicht die Ausnahme gewesen sein. Und drittens geht es bei den Klagen über zu viel Bürokratie oft um die sogenannten Minijobs. Und da sage ich: Ja, wir wollen, dass auch dort der Mindestlohn gilt und nicht durch überlange Arbeitszeiten am Ende Löhne von drei oder vier Euro pro Stunde herauskommen. Ich glaube, man muss noch einmal sagen, worum es beim Mindestlohn geht: Wir wollen, dass sich Arbeit lohnt. Und jemand, der den ganzen Tag arbeiten geht, der muss am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche haben als jemand, der gar nicht arbeiten geht. Schlimm genug, dass wir dafür überhaupt ein Gesetz brauchen. Eigentlich sollte das in einem Land wie Deutschland normal sein. Ist es aber leider nicht. Deshalb haben wir jetzt dieses Gesetz geschaffen und werden es auch in der Praxis durchsetzen.

Frau Schwesig möchte mehr Geld für Alleinerziehende, die Union nicht.

Gabriel Und Sie werden sehen, dass Manuela Schwesig und die SPD sich damit durchsetzen. Ich bin sicher, dass auch die Union mitmachen wird, wenn wir eine vernünftige Finanzierung für die Erhöhung des steuerlichen Entlastungsbetrags für Alleinerziehende bekommen. Das Thema ist mir persönlich wichtig. Meine Mutter war alleinerziehende Krankenschwester: Sie hat Früh-, Spät- und auch Nachtschicht gearbeitet und hat uns zwei Kinder groß gezogen. Weil sie keine Lust hatte, mit unserem Vater vor Gericht zu streiten, hat sie auf Unterhalt verzichtet. Wenn ich heute höre, dass einige Unionspolitiker sagen, dass sie gegen die Entlastung von Alleinerziehenden seien, weil die ja damit besser gestellt würden als Ehepaare, dann stellen sich mir die Nackenhaare auf. Mal abgesehen davon, dass das Unsinn ist, bedeuten diese "Argumente" ja, man soll bloß nicht zu viel finanzielle Sicherheit für Alleinerziehende schaffen, weil sonst die Flucht aus der Ehe zunehmen könnte. Das ist so absurd, dass man am liebsten aufschreien möchte. Es gibt viele Gründe, warum Mütter oder Väter ihre Kinder alleine erziehen. Die allermeisten davon sind traurig. Und die Trennung aus einer Partnerschaft oder Ehe geschieht nicht selten, damit die Kinder besser aufwachsen als in einer zerrütteten Ehe. So war es zum Beispiel bei uns. Wer also ernsthaft meint, eine kleine Verbesserung für Alleinerziehende würde Ehen gefährden, dem kann man nur empfehlen, sich mal mit Müttern und Vätern zu unterhalten. Alleinerziehende leisten Unglaubliches für die Gesellschaft. Überhaupt muss man mal die Familien- und Kinderförderung in Deutschland vom Kopf auf die Füße stellen. Ich würde sogar so weit gehen, dafür die Verfassung zu ändern.

Wie meinen Sie das?

Gabriel Das heutige Steuerrecht führt dazu, dass dem Staat Kinder von wohlhabenden Eltern mehr wert sind als von Normalverdienern oder ärmeren Eltern. Je mehr man verdient, desto mehr Steuern schenkt einem der Staat für die eigenen Kinder. Die Familien- und Kinderförderung über die Einkommenssteuer führt dazu, dass Kinder nach oben veredelt werden und nach unten verelenden. Das hat einmal ein Bundesverfassungsgericht vor vielen Jahren anders gesehen. Wenn das heute noch so ist, müsste man die Verfassung eben ändern. Und auch, wenn das in dieser Legislaturperiode mit CDU und CSU nicht geht, werden wir an diesem Thema dranbleiben.

Ihre persönliche Entlastung ist auch höher als die eines weniger Verdienenden. Das Existenzminimum wird auch für Erwachsene freigestellt.

Gabriel Ja, aber muss ich es deswegen bei Kindern auch machen? Ist es fair, dass dem Staat Kinder unterschiedlich viel wert sind? Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Außerdem wurde das Grundgesetz schon für viel dümmere Dinge geändert. Das ist übrigens nur ein Schritt auf dem Weg zu einer modernen Familienpolitik.

Was kommt noch?

Gabriel Wir müssen endlich mehr tun für gerechte und faire Bezahlung von Frauen. Das ist kein "Frauenthema", sondern ein Gerechtigkeitsthema, das auch alle Männer angeht. Kein Ehemann und kein Partner will doch, dass seine Frau für gute Arbeit schlecht bezahlt wird. Es ist doch eine Schande für unser Land, dass wir Deutschen in Europa bei Löhnen und Gehältern die Frauen gegenüber Männern fast am schlechtesten bezahlen. Von gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit sind wir weit entfernt. Wenn wir es ernst meinen mit der Gleichbezahlung von Männern und Frauen, müssten wir die typischen Frauenberufe z.B. in der Alten- und Krankenpflege, in den Kitas oder in anderen sozialen Berufen endlich deutlich besser bezahlen. Bisher stehen diese Berufe deutlich hinter den technischen und kaufmännischen Berufen zurück. Wäre die Altenpflege oder der Erzieherberuf ein Männerberuf, wir würden sie längst besser bezahlen.

Könnten Sie das nicht mit dem Entgeltgleichheitsgesetz angehen?

Gabriel Mir reicht es nicht, wenn wir nur über bessere Transparenz der Gehälter nachdenken. Das ist auch wichtig. Aber das Entscheidende ist doch, dass wir die wichtige Arbeit mit kranken, behinderten oder pflegebedürftigen Menschen oder die Erziehung unserer Kinder in den Kitas endlich gesellschaftlich aufwerten. Das beginnt übrigens mit der Ausbildung. Die meisten sozial-pflegerischen Berufe sind schulische Ausbildungsberufe: ohne Ausbildungsvertrag und ohne Ausbildungsvergütung. Für einige der Berufe z.B. für medizinisch-technische Assistenten muss oft sogar Schulgeld gezahlt werden. Diese Berufe müssen wir endlich gleich behandeln mit den kaufmännischen und technischen Berufen und sie ins Berufsbildungsgesetz bringen. Mit Ausbildungsvertrag und Ausbildungsvergütung. Da geht die Gleichbehandlung los. Dann werden wir dort auch den massiven Fachkräftemangel besser in den Griff bekommen.

Dann müssen Sie aber auch die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöhen.

Gabriel Ja, dazu bekenne ich mich auch. Es werden aber nur geringe Mehrkosten sein, aber das wird uns doch wohl die Pflege unserer eigenen Eltern und Großeltern wert sein, oder?

Viele SPD-Themen aus dem Koalitionsvertrag sind umgesetzt. Trotzdem steht Ihre Partei bei 25 Prozent wie bei der Wahl.

Gabriel Das ist doch erst einmal gar keine schlechte Ausgangslage.

Wie bitte?

Gabriel Schauen Sie sich mal die Geschichte von Regierungsbildungen an: Ein Jahr nach Übernahme der Regierung hat eine Regierungspartei meistens eher an Zustimmung verloren. Wir halten unseren Wert, weil wir das, was wir vor der Wahl versprochen haben, auch einhalten.

Welch' neue Bescheidenheit.

Gabriel Nein, gar nicht. Aber seien wir doch ehrlich: Viele Menschen haben längst das Vertrauen verloren, dass sich Parteien und Politiker an das halten, was sie vor der Wahl versprochen haben. Deshalb habe ich immer gesagt: Lasst uns lieber weniger versprechen, aber dann das auch einhalten. Und genau das tun wir gerade. Vertrauen bilden ist der erste Schritt für Mehrheiten.

Vielleicht gibt es für das Angebot der SPD auch nur 25 Prozent Zustimmung?

Gabriel Ja, das stimmt. Deshalb müssen wir unser Angebot erweitern, wenn wir mehr Menschen erreichen wollen, die uns für unsere Wahlaussagen 2013 beim letzten Mal gewählt haben. Ein paar Themen habe ich eben angesprochen, etwa eine moderne Familienpolitik. Was können wir tun, um Eltern zu helfen, die doppelte Belastung von Beruf und Kindererziehung besser zu meistern? Und vor allem: Was tun wir, damit Deutschland auch morgen noch ein starkes und sicheres Land ist? Was müssen wir tun, um genug Fachkräfte zu haben, obwohl unsere Gesellschaft wegen des demografischen Wandels Millionen Erwerbstätige weniger haben wird? Wie lösen wir unsere Energieprobleme? Was bedeutet die Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft? Wie gehen wir mit der Verwischung der Grenzen von Arbeiten und Leben in einer digitalisierten Arbeitswelt um? Was machen wir, um den Strom von Flüchtlingen nach Europa und Deutschland nicht zum sozialen Sprengstoff werden zu lassen? Um kluge Antworten für diese Herausforderungen der Zukunft wird es gehen. Der Wahlkampf 2017 wird nicht über das Heute geführt, sondern über das Morgen. Und wir Sozialdemokraten wollen uns nicht wie die Union mit dem Managen des Heute zufrieden geben, sondern dafür sorgen, dass Deutschland auch morgen noch modern und sicher ist.

Was hat die SPD bisher für die arbeitende Mitte getan, die Fachangestellten, die Arbeiter, die schon heute Mindestlohn verdienen, aber Abstiegsängste haben?

Gabriel Eine gute Wirtschaftspolitik. 370.000 neue Arbeitsplätze im vergangenen Jahr und 170.000 neue in diesem Jahr. Und vor allem nach vielen Jahren sinkender Realeinkommen endlich wieder bessere Löhne und Gehälter. Das haben die Menschen in Deutschland auch wirklich verdient.

Was hat das mit Ihrer Wirtschaftspolitik zu tun?

Gabriel Ich würde nie sagen, dass dies allein der Wirtschaftspolitik zu verdanken ist. Hochinnovative Unternehmen und hochqualifizierte Arbeitnehmer sind die Grundlage für diesen Erfolg. Aber die Politik hat auch eine Menge dafür getan. Es geht los bei den Reformen unter Gerd Schröder und der Sicherung der industriellen Wertschöpfung in Deutschland. Viele andere Staaten haben gedacht, es reiche, sich auf Dienstleistungen und Finanzmärkte zu konzentrieren. Es waren vor allem Sozialdemokraten in Bund und Ländern, die diesen Unsinn nicht mitgemacht haben. Wir haben ein starkes Industrieland gesichert, um das uns heute viele andere beneiden.

Die Union sieht das nicht anders.

Gabriel Heute nicht, aber als es darum ging, dafür etwas zu tun, da war von der Union nicht viel zu sehen. Im Gegenteil. Und gerade jetzt in der aktuellen Bundesregierung waren es wieder Sozialdemokraten, die dafür gesorgt haben, dass es endlich wieder mehr Tarifverträge und damit bessere Löhne und Gehälter gibt. Dadurch steigt die Binnennachfrage, die gerade unser Wirtschaftswachstum ganz wesentlich trägt. Wir haben sechs Milliarden Euro mehr in Bildung investiert und gerade das größte Investitionsprogramm für Kommunen mit rund 15 Milliarden Euro Entlastung für die Städte und Gemeinden in Gang gesetzt. Investitionen, die für Arbeit und Einkommen sorgen.

Wir haben eher das Gefühl, heute wird verteilt, was morgen in der Krise fehlt.

Gabriel Wenn wir jetzt nicht investieren, wann dann? Die gute wirtschaftliche Entwicklung verschafft uns doch gerade den Spielraum, Schulden zu reduzieren und trotzdem endlich mehr zu investieren. Die öffentliche Infrastruktur verkommt uns doch sonst zunehmend.

Warum verzichten Sie nicht auf die Rente mit 63 und die Mütterrente und investieren dafür in die digitale Bildung, in Schulen, Erzieher und Infrastruktur?

Gabriel Weil wir beides können und sogar noch Schulden abbauen. Übrigens gibt es keine Rente mit 63. Sondern man kann nach 45 Versicherungsjahren ab 63 ohne Rentenkürzungen in Rente gehen. Das ist nur fair den Menschen gegenüber, die sehr lange Arbeitszeiten haben. Das sind Menschen, die zum Teil mit 14, 15 oder 16 Jahren angefangen haben zu arbeiten. Es sind übrigens Arbeiter und Angestellte, die häufig noch unter harten Bedingungen arbeiten mussten und die den Wohlstand dieses Landes aufgebaut haben. Die meisten Menschen, die diese Rente nach 45 Versicherungsjahren kritisieren, arbeiten selbst in ihrem Leben viel weniger, haben höhere Einkommen und höhere Renten und Pensionen. Ich wünschte mir manchmal etwas mehr Demut vor der Lebensleistung derjenigen, die sehr lange gearbeitet haben.

Wer sichert den Wohlstand unserer Kinder?

Gabriel Das müssen wir schon selbst tun, wie es unsere Eltern und Großeltern auch getan haben. Und das tun wir doch auch. Deutschland ist ein starkes Land, weil die Menschen hier außerordentlich fleißig und gut ausgebildet sind. Wenn wir in Bildung investieren und dafür sorgen, dass sich Arbeit und Leistung lohnt — und zwar für jeden und nicht nur für die angeblichen Eliten unseres Landes — dann ist mir um die Zukunft unserer Kinder nicht bang.

Der schleswig-holsteinische SPD-Ministerpräsident Torsten Albig hat gesagt, 2017 hat die SPD ohnehin kaum eine Chance gegen Angela Merkel.

Gabriel In einem hat Torsten Albig Recht: wer so über sich selbst redet, der verliert am Ende gewiss. Nur, wer von sich selbst überzeugt ist, kann andere überzeugen. Wenn ich eine solche Selbst-Verzwergung eines führenden Sozialdemokraten lese, wünsche ich mir in der SPD manchmal ein bisschen etwas von dem überbordenden Selbstbewusstsein konservativer Politiker. Wir Sozialdemokraten sollten nicht immer so bescheiden sein, sondern dürfen auch mal stolz sein auf das, was wir schon geschafft haben. Deutschland hat eine stabile und handlungsfähige Regierung. Und das liegt an der SPD. Und wer das nicht glaubt, sollte sich nur mal an die letzte Regierung erinnern, als sich CDU, CSU und FDP ständig gegenseitig als "Wildsäue" beschimpft und nichts vorangebracht haben. Wo wären wir heute zum Beispiel, wenn der Außenminister nicht der Sozialdemokrat Frank-Walter Steinmeier wäre?

Was muss denn die SPD tun, um bessere Umfragewerte zu bekommen?

Gabriel Mein Rat ist: nicht immer auf die Umfragen schauen und nicht immer taktisch denken. Sondern das tun, was man für richtig hält und was den Menschen in Deutschland hilft. Die Wählerinnen und Wähler haben es doch satt, dass Politiker immer nur daran denken, was für die eigene Partei am besten sein könnte. Wer ständig nur darüber nachdenkt, was er für bessere Umfragen tun muss statt darüber nachzudenken, was für die Zukunft des Landes und seiner Menschen gut ist, wird am Ende auch keine Wahl gewinnen. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, wer es ernst meint. Für die SPD geht es darum, die Menschen wieder zu erreichen, die dieses Vertrauen in die Politik verloren haben und gar nicht mehr zur Wahl gehen. Dafür müssen wir Ihnen zu allererst zu hören. Das Zuhören neu zu lernen, ist unsere wichtigste Aufgabe.

Sie könnten Ihrer Partei zuhören, wenn es um die Frage geht, wer Kanzlerkandidat 2017 werden soll.

Gabriel Darum müssen Sie sich keine Sorgen machen.

Wir haben gelesen, Ihr Freund Martin Schulz ist als Kandidat im Gespräch.

Gabriel Es ist ein schöner Unterschied zur CDU, dass wir nicht nur eine Person haben, der man politische Führung zutraut.

Also Sie und Herr Schulz?

Gabriel Netter Versuch. Versuchen Sie es in zwei Jahren doch noch mal.

Kann sich ein Parteichef erlauben, zwei Mal hintereinander nicht die Kanzlerkandidatur zu übernehmen?

Gabriel Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Wer Vorsitzender einer 152 Jahre alten Partei wird, hat weder Angst vor Wahlkämpfen noch vor Verantwortung.

Die Griechenland-Krise treibt Europa um. Wann legt Alexis Tsipras ein Reformkonzept vor, dass die Euro Gruppe akzeptieren kann?

Gabriel Das kann nur die griechische Regierung selbst beantworten. Die Euro-Gruppe ist bereit, dem Land zu helfen. Voraussetzung ist aber, dass Athen die bisher getroffenen Reformvereinbarungen akzeptiert. Die Troika ist ja nicht schuld an dem mangelnden Staatswesen in Griechenland, Griechenland ist auch Opfer seiner eigenen wirtschaftlichen und politischen Eliten. Die neue Regierung hätte jetzt die Chance, endlich was gegen Korruption und Steuerflucht zu tun und sich von dem allen frei zu machen. Dabei wollen wir sie unterstützen.

Wie kann Europa konkret helfen, mit Kontensperrungen griechischer Reeder?

Gabriel Zum Beispiel. Wir haben Herrn Tsipras angeboten, Konten von wohlhabenden griechischen Bürgern einzufrieren, die ihrem Heimatland Steuern schulden. Das Angebot steht, aber griechische Finanzbehörden müssen dafür schon selbst tätig werden. Man kann den Griechen den deutschen Lastenausgleich als Beispiel zeigen. Die Lage Griechenlands heute ist nicht mit der Lage in Westdeutschland nach dem II. Weltkrieg zu vergleichen. Aber die Methode damals war eine gute Idee: Die, die noch viel hatten, gaben denen etwas, die alles verloren hatten. So einen Akt des Patriotismus würde ich mir in Griechenland auch wünschen. Die EU ist bereit, mit Personal beim Aufbau des Staates zu helfen oder Investitionsmittel aus dem Juncker-Plan gezielt für Griechenland zu nutzen. Und wir müssen das Vertrauen in das Land wieder aufbauen. Aber dazu muss jetzt endlich mal Schluss mit den Spielchen sein, die die neue Regierung seit Wochen treibt.

Machen Ihnen die Annäherungen zu Russland Sorgen?

Gabriel Warten wir's mal ab. Das Beispiel Zyperns ist da doch geradezu abschreckend‎. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand in Athen wirklich ernsthaft mit dem Gedanken spielt, Europa den Rücken zuzukehren und sich Moskau in die Arme zu werfen. Ich bezweifele auch, dass es in Moskau angesichts der dortigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage das ausgeprägte Bedürfnis gibt, so manche finanzielle Wunschvorstellung in Griechenland freudig zu erfüllen.

Michael Bröcker und Eva Quadbeck führten das Gespräch.

(brö / qua)
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