Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch „Kinderschutz ist kein Gedöns“

Berlin · Die Opfer sexuellem Kindesmissbrauchs werden in Deutschland zu wenig vom Staat unterstützt. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wählt noch drastischere Worte: Die gesamte Gesellschaft habe versagt.

 Der Schatten von einem Mann und einem schaukelnden Kind (Symbolfoto).

Der Schatten von einem Mann und einem schaukelnden Kind (Symbolfoto).

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Die Bilanz ist bitter: Es geht um kollektives Schweigen und ein flächendeckendes Versagen, für das die Gesellschaft heute die Verantwortung übernehmen muss. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stellte am Mittwoch in Berlin ihren Bilanzbericht nach drei Jahren Tätigkeit vor. Das nahe Umfeld und die gesamte Gesellschaft hätten die Kinder nicht geschützt und die betroffenen Erwachsenen nicht unterstützt, erklärte die Kommissions-Vorsitzende Sabine Andresen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte die Bundesländer eindringlich auf, eigene Missbrauchsbeauftragte zu berufen. Viele der Empfehlungen der Kommission richteten sich an Länder und Kommunen. „Kinderschutz ist kein Gedöns“, sagte Rörig, „sondern Kriminalitätsbekämpfung.“ Fälle wie in Staufen oder Lügde zeigten, der Kinderschutz in Deutschland sei in der Krise. Die Politik müsse sich neu aufstellen, forderte Rörig. Er kündigte eine gemeinsam mit dem Familienministerium konzipierte Sensibilisierungskampagne an, die 2020 starten soll.

Im Verlauf der vergangenen drei Jahre haben sich fast 1.700 Betroffene an die Aufarbeitungs-Kommission gewendet. Knapp 900 Menschen konnten in vertraulichen Anhörungen berichten, was ihnen widerfahren ist. Zusätzlich wurden rund 300 schriftliche Berichte ausgewertet. Auf diesen Erfahrungen und Schilderungen beruhten der Bilanzbericht und die Empfehlungen der Kommission, sagte Andresen: „Wir hoffen sehr, dass dieser Bericht nicht ins Regal gestellt wird, sondern die Erkenntnisse überall berücksichtigt werden.“

Die Kommission fordert, Kinder und Jugendliche müssten ernstgenommen und geschützt werden. Ihre Rechte müssten bei Behörden oder vor Gericht im Mittelpunkt stehen. Erwachsene Betroffene bräuchten eine gute Versorgung. Sie erhielten oft keine passenden Hilfen, etwa bei Therapien. Die Hürden im sozialen Entschädigungsrecht seien zu hoch. Erwachsene, die als Kinder vor 1990 in der DDR sexuelle Gewalt erlitten haben, haben dem Bericht zufolge bisher praktisch keine Chance auf eine Entschädigung auf diesem Weg.

Die Kommission spricht zahlreiche Empfehlungen aus, damit Betroffene zu ihrem Recht kommen. Mitarbeiter von Behörden, in der Justiz und bei den Krankenkassen müssten auf den Umgang mit traumatisierten Menschen vorbereitet und geschult werden. Pädagogen, Mediziner, Psychologen und Juristen müsse in der Ausbildung Grundlagenwissen über sexuelle Gewalt vermittelt werden.

In einem eigenen Band werden auch 30 Schilderungen von Betroffenen dokumentiert. Schwerpunkte der Arbeit in den ersten drei Jahren waren der Missbrauch in der Familie, in den Kirchen und in der DDR. Seit diesem Jahr kümmert sich die Kommission insbesondere um Missbrauch im Sport und von behinderten Menschen.

Zentrales Thema in den Anhörungen der Betroffenen war das Schweigen und Wegsehen der Umgebung, das „Schweigen der Anderen“, wie Andresen sagte. Das habe Kinder und Jugendliche gezwungen, die Gewalterfahrungen allein zu bewältigen, um weiterleben zu können. Mehr als die Hälfte der Betroffenen (56 Prozent) hat die Gewalt in der eigenen Familie erlitten. Die meisten sind Mädchen und Frauen (83 Prozent).

Die Arbeit des 2016 eingesetzten Gremiums war zunächst auf drei Jahre begrenzt worden und wurde inzwischen bis Ende 2023 verlängert. Die Kommission war vom Missbrauchsbeauftragten Rörig berufen worden. Sie ist eine der Reaktionen auf das Bekanntwerden der Missbrauchsskandale in Kirchen, Internaten und anderen Institutionen vor gut neun Jahren.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erklärte anlässlich des Bilanzberichtes, die Arbeit der Kommission habe ein stärkeres Bewusstsein geschaffen für das Ausmaß und die Folgen dieser schrecklichen Erfahrungen. Sexualisierte Gewalttaten seien keine Einzelfälle, sondern gingen die ganze Gesellschaft an.

(zim/epd)
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