75 Jahre nach der Befreiung Ist das krass

Lohheide/Lübbecke · Bildung sei das beste Mittel gegen Rechtsextremismus, heißt es. In den KZ-Gedenkstätten aber stellen Schüler vermehrt revisionistische Fragen. Lernen sie genug aus dem Holocaust? Unterwegs mit Abiturienten.

  Abiturienten aus Lübbecke in der Gedenkstätte Bergen-Belsen.   Foto: OLE SPATA

Abiturienten aus Lübbecke in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Foto: OLE SPATA

Foto: Ole Spata

Mareike Buhrke klickt auf ihrem Macbook herum. Irgendetwas klappt nicht, ständig ist ein Foto von ihrer Hochzeit zu sehen. Als sie eben sagte, dass es jetzt sehr persönlich werde, meinte sie eigentlich etwas anderes. Die Geschichtslehrerin Buhrke will an die Gefühle ihrer Schüler heran.

An einem Dienstag im Februar sitzen elf Jungen und neun Mädchen in einem Zimmer, und es ist das Normalste der Welt. Energydrinks und Thermobecher mit Filterkaffee stehen auf den Tischen, darunter Sneaker bekannter Marken. Ein großer Bildschirm zeigt die Uhrzeit an, darüber steht Amsterdam, so als wisse das Gerät bereits, worum es hier gleich geht.

Nacheinander tauchen Fragen auf dem großen Bildschirm auf. Was verbinden Sie mit dem Ort Bergen-Belsen? Mit welchen Gefühlen fahren Sie dorthin? Was erwarten Sie von der Exkursion? Und dann, um 9.55 Uhr, die Frage: Mal ehrlich, interessiert Sie das Thema Holocaust überhaupt?

Der Grundkurs Geschichte des Wittekind-Gymnasiums in Lübbecke tippt nach jeder Frage auf Handys herum. Das Eingetippte landet auf dem Bildschirm: „Nichts“, „Leid“, „Diskriminierung“, „tragisch“, „Übelkeit“, „Mitleid“, solche Sachen. Noch bevor in Deutschland irgendjemand den Unterschied zwischen Pandemie und Epidemie verstanden hat, kommunizieren Schüler und Lehrer ganz bekömmlich über das Internet.

75 Jahre ist es her, dass die Alliierten die deutschen Konzentrationslager der Nationalsozialisten befreit haben. Und nun sitzen Abiturienten eines deutschen Gymnasiums vor einem Handy und denken darüber nach, ob sie, mal ehrlich, der Holocaust überhaupt interessiert. Zwölf sagen: Ja, sehr. Zwei sagen: Geht so. Die anderen haben kein Handy dabei.

In Deutschland war es lange Zeit ziemlich egal, ob man sich gern mit dem Holocaust beschäftigt. Erst, weil viele es nicht gerne sahen, dann, weil man musste. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik waren die Verbrechen der Nazis ein Tabuthema. Ab den 68ern hatte sich dann endlich jeder damit zu beschäftigen, ob interessiert oder nicht.

Im April 2020 nun sind die Begriffe „Schuldkult“ und „erinnerungspolitische Wende“ der Neuen Rechten geläufig. Rechtsextreme Terroranschläge und Morde gehören wieder zur deutschen Gegenwart. Und in einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der „Zeit“ gibt erneut mehr als die Hälfte der Deutschen an, sich einen „Schlussstrich“ unter der NS-Vergangenheit zu wünschen.

Wie es so weit gekommen ist, dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Wie der Rechtsextremismus aber bekämpft werden sollte, da sind sich die meisten einig: durch Bildung. Aber funktioniert das?

Zwei Tage nachdem sie ihre Gefühle in Handys getippt haben, laufen die Lübbecker Abiturienten über Wege, die sie an Massengräbern vorbeiführen. Hier 2000 Tote, da 1000, daneben 100. Bis zur Befreiung durch britische Truppen am 15. April 1945 starben geschätzt 70.000 Menschen im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Kälte und Regen machen die Schritte an diesem Tag schwer. Die Last der Geschichte macht sie manchmal schmerzhaft.

Unter ihren Regenschirmen und Kapuzen richten sich die Blicke der Schüler laufend nach unten, als suchten sie auf dem Boden eine Antwort für all das. Eine Explosion unterbricht das träge Schweigen, in der Nähe donnern Schüsse aus einer Waffe. Es ist die Nato, die diesen Lärm veranstaltet. Sie nutzt den alten Übungsplatz der Wehrmacht. „Schon ein bisschen crazy“, sagt einer. „Ist das krass“, ein anderer.

KZ-Gedenkstätten sind ein eher jüngeres Phänomen der deutschen Geschichte. Das 1500 Quadratmeter große Dokumentationszentrum Bergen-Belsen wurde erst 2007 eröffnet. Mehr als 250.000 Besucher kommen nun jedes Jahr, die meisten sind Schüler. Je weniger Zeitzeugen es noch gibt, desto wichtiger werden Gedenkstätten. Schulklassen bekommen in Bergen-Belsen vor 2023 kaum einen Termin.

Die Gedenkstätten sind aber auch Seismografen. Wird der Konsens „Nie wieder Auschwitz“ erschüttert, spüren sie das hier als Erste. Es sind dann Menschen wie Jakob Rühe, die aufhorchen. Weil wieder einer fragt, ob die Rheinwiesen-Lager der Amerikaner nicht viel schlimmer waren als die Konzentrationslager. Weil wieder einer versucht, die Nazi-Verbrechen mit Hinweisen auf Guantánamo oder die Sklaverei in Nordamerika zu relativieren.

Rühe führt seit zehn Jahren Besucher durch die Gedenkstätte Bergen-Belsen. Guides heißen diese Leute hier, weil der Begriff „Führer“ nirgendwo unangemessener sein könnte. Rühe führt auch die Abiturienten aus Lübbecke an den Massengräbern vorbei.

Von dem Konzentrationslager sehen die Schüler nicht mehr viel. Weil Typhus grassierte, brannten die Briten die meisten Gebäude nach der Befreiung nieder. Man könnte das weitläufige Gelände für eine verwunschene Märchenlandschaft halten. Die von Heidekraut übersäten Wiesen sehen aus, als könnte irgendwann Gras über die Sache gewachsen sein. Aber so leicht geht das zum Glück nicht.

Jakob Rühe hat lange gegen den Regen gekämpft. Er hat die Schüler in einem muffigen Raum mit Oberlichtprojektor Quellenarbeit machen lassen. Er hat sie Todesanzeigen in amerikanischen Zeitungen analysieren lassen und an einem Modell der Gedenkstätte die Typhus-Epidemie im Lager mit der Covid-19-Pandemie der Gegenwart verglichen.

Aber irgendwann mussten sie ja raus. Rühe erzählt nun, dass Bundespräsident Theodor Heuss schon 1952 erste Teile einer Gedenkstätte in Bergen-Belsen eröffnete. „Wir Deutschen wollen, sollen und müssen, will mir scheinen, tapfer zu sein lernen gegenüber der Wahrheit, zumal auf einem Boden, der von den Exzessen menschlicher Feigheit gedüngt und verwüstet wurde“, sagte Heuss damals.

Rühe führt weiter zum Gedenkstein der berühmtesten Insassen des KZ Bergen-Belsen: der Schwestern Margot und Anne Frank. Sie wurden erst von Amsterdam über Westerbork nach Auschwitz deportiert und von dort nach Bergen-Belsen. In einem Klarsichtordner zeigt Rühe alte Fotos. Die Schüler schweigen. Der Guide sagt, er sei nicht für dieses Wetter geschaffen, und: „Ich hab jetzt keinen Bock mehr, Bilder zu zeigen.“ Will noch jemand zur Hauptlagerstraße gehen? Nee.

Fragt man Jakob Rühe später im Trockenen nach Schülern, die heikle Fragen stellen, sagt er, dazu dürfe er offiziell nichts sagen. Inoffiziell auch nicht. Dafür erzählt Jens-Christian Wagner, sein Chef.

Wagner leitet seit sechs Jahren die niedersächsischen Gedenkstätten. Immer häufiger meldet er sich nun zu Wort, weil sein Seismograf ausschlägt. Weil der Konsens erschüttert wird. Er sagt, revisionistische Fragen kämen vermehrt von jungen Menschen, auch von Personen, die nicht offensichtlich rechtsextrem seien. „Derartige Besucher sind nach wie vor eine kleine Minderheit, aber sie werden deutlich lauter und aggressiver“, sagt Wagner. Schuld daran habe nicht nur der Aufstieg der AfD, sondern auch der immer größer werdende zeitliche Abstand zu den Taten.

Anfang der 90er Jahre gab es auch eine Welle der Abwehr. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vom NSU marschierten in SA-ähnlicher Uniform durch Buchenwald. Neu sei nun die Schärfe, das Provokative. „In Bergen-Belsen behaupten Besucher zum Beispiel, die vielen Toten seien nicht der SS anzulasten, sondern den Alliierten, die eine Versorgung der Häftlinge durch die Bombardierung der Verkehrswege unmöglich gemacht hätten“, sagt Wagner.

Die Gedenkstätten sind mittlerweile auch Bildungsstätten. Es gehe nicht mehr um frontale Führungen, sondern um erforschendes Lernen, sagt Wagner. Die Schüler sollen sich selbst ein Urteil bilden können. „Wir dürfen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger kommen, da erntet man nur Desinteresse“, sagt er. Deswegen gibt es interaktive Formate, auch mit Tablets.

Aber je ausgefeilter die pädagogischen Konzepte der Einrichtungen werden, desto mehr verlassen sich Lehrer auch auf sie. „Manchmal müssen wir Arbeit übernehmen, die in der Schule versäumt wird“, sagt Jens-Christian Wagner. Und: „Manche Lehrer glauben, dass rechtsgerichtete Schüler in den Gedenkstätten einfach geheilt würden.“ Entscheidend sei eine intensive Vor- und Nachbereitung der Besuche in der Schule.

Fragt man die nordrhein-westfälische Schulministerin, ob sie mit dem Reflexionsniveau der Schüler zum Holocaust zufrieden ist, gibt sie eine umfassende Antwort. Die Kurzfassung: Ja, ist sie. Yvonne Gebauer, FDP, sagt aber auch: „Es steht außer Frage, dass schulische Prävention und Intervention weiter gestärkt werden müssen.“ Zwar seien die Fahrten von Schülern an Erinnerungs- und Gedenkorte „ein wichtiger Baustein“, zur Pflicht sollten sie aber nicht werden.

Zurück in der dritten Stunde bei Mareike Buhrke. „Wie finden Sie, dass das Wittekind-Gymnasium regelmäßig nach Bergen-Belsen fährt?“, will sie jetzt wissen. Es gibt sogar eine mündliche Antwort. Bene sagt: „Wir sind die, die verhindern müssen, dass das wieder passiert.“

Die Nachbereitung des Besuchs findet im Bus statt.

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