Interview mit der Gesundheitsministerin Schmidt will alle Pflegeheime kontrollieren lassen

Düsseldorf (RPO). Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat im Interview mit unserer Redaktion angekündigt, dass bis Ende 2010 alle Pflegeheime in Deutschland mindestens einmal unangemeldet kontrolliert werden. Bereits ab September sollen erste Ergebnisse vorliegen.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt setzt sich für das Modell der Bürgerversicherung im Pflegebereich ein, bei dem jeder einzahlen muss.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt setzt sich für das Modell der Bürgerversicherung im Pflegebereich ein, bei dem jeder einzahlen muss.

Foto: AP, AP

Am 1. Juli ist der Pflege-TÜV gestartet. Es soll Schulnoten für Heime und Pflegedienste geben. Wann rechnen Sie damit, dass Betroffene und Angehörige erste Schulnoten vergleichen können?

Ulla Schmidt: Erste Ergebnisse sollen im Herbst — ab September - vorliegen. Entscheidend ist, dass es nun erstmals bundesweit vergleichbare Kriterien gibt, nach denen Pflegequalität von Heimen und von ambulanten Pflegediensten für jeden sichtbar wird. Die Prüfergebnisse müssen veröffentlicht werden — im Internet und als gut sichtbarer Aushang in der Einrichtung selbst.

Die Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen werden unangemeldet durchgeführt. Bis Ende nächsten Jahres muss jede Einrichtung einmal geprüft werden, ab dem Jahr 2011 jährlich. Ich verspreche mir sehr viel davon. Angehörige und Pflegebedürftige haben künftig auf der Suche nach der passenden Pflege einen guten Anhaltspunkt. Und für Pflegeeinrichtungen ist es ein Ansporn, sich in schlecht benoteten Bereichen künftig stärker anzustrengen.

Aber es gibt doch auch viel Kritik an dem neuen Benotungssystem. Der Vorwurf: Man könne schlechte Pflegenoten durch gute Noten beispielsweise durch Erste-Hilfe-Schulungen der Mitarbeiter ausgleichen.

Schmidt: Der Vorwurf stimmt nicht. Fortbildungsmaßnahmen von Mitarbeitern können eine schlechte Pflegequalität nicht ausgleichen, weil Pflege viel stärker gewichtet wird. Bei der Prüfung durch den Medizinischen Dienst wird ein ausführlicher Fragenkatalog abgearbeitet: 35 von insgesamt 64 Fragestellungen beziehen sich auf die pflegerische Versorgung.

Zehn Fragen auf die Bewertung des Umgangs mit demenziell Erkrankten, zehn Fragen auf soziale Betreuung und Alltagsgestaltung, neun auf Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene. Insgesamt beziehen sich also über 70 Prozent der Kriterien auf Pflege und Betreuung, das heißt, selbst eine eins bei "Wohnen und Verpflegung" kann eine schlechte Note für "Pflege und medizinische Versorgung" nicht aufheben. Im übrigen wird jede einzelne Fragestellung ausgewiesen, und jeder kann jede Einzelbewertung einsehen.

Sehen Sie denn keinerlei Verbesserungsbedarf?

Schmidt: Ich hätte mir eine plakativere Darstellung vorstellen können. Aber wir haben zumindest eine Signalfarbe durchsetzen können, wenn eine Bewertung schlechter als vier ist. Jeder Besucher sieht dann: Halt, aufpassen. Parallel dazu wird das neue Bewertungssystem bis Ende 2010 wissenschaftlich begleitet und überprüft. Wenn sich herausstellt, dass das Verfahren verbessert werden muss, werde ich darauf dringen, dass die Selbstverwaltung dies zügig umsetzt. Das ist bereits vertraglich so vorgesehen.

Sie hatten sich vorgenommen, mit der "Minutenpflege" Schluss zu machen. Das wird in dieser Wahlperiode wohl nichts mehr, oder?

Schmidt: Das ist so, aber zumindest liegen jetzt umsetzbare Vorschläge auf dem Tisch. Wir haben dafür einen Beirat eingesetzt, der ein sorgfältig erarbeitetes Konzept für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das damit verbundene Begutachtungsverfahren vorgelegt hat. Ich bedauere sehr, dass die CDU/CSU im Bundestag darüber nicht mehr beraten wollte. Das ist nun eine der ersten Aufgaben nach der Wahl. Denn wir müssen bei der Begutachtung der Pflegebedürftigen weg von der "Minutenpflege".

Die künftige Begutachtung muss den ganzen Menschen in den Blick nehmen. Entscheidend ist, dass der Grad der Einschränkung der Selbstständigkeit in den Mittelpunkt rückt: was muss getan werden, um die Selbständigkeit des einzelnen so lange wie möglich zu erhalten? Der Hilfebedarf umfasst damit alles: kognitive, körperliche und soziale Angebote. Für mich besonders wichtig ist der Bedarfsgrad eins, bei dem alle Hilfsangebote so festgelegt werden, dass Pflegebedürftigkeit oder schwere Pflegebedürftigkeit so weit wie möglich verhindert werden. Wir wollen konsequent den Wechsel des Leitbildes von der Fürsorge hin zur Teilhabe durchsetzen.

Wie viele Pflegestützpunkte sollte es am Ende der kommenden Legislatur geben?

Schmidt: Es gibt bisher rund 500 Pflegestützpunkte in Planung, davon rund 150 bereits eingerichtet. Das ist ein guter Anfang, aber ich hätte gerne mehr Anlaufstellen für Angehörige und Pflegebedürftige. Ich würde mir für jeweils 20.000 bis 30.000 Einwohner einen Pflegestützpunkt wünschen. Leider kommen die Länder den Bedürfnissen der Menschen noch nicht so nach, wie es wünschenswert wäre.

Nach einer Umfrage des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe haben 74 Prozent der Befragten gesagt, dass sie sich bei den Pflegestützpunkten sehr gut aufgehoben fühlen. Ein Viertel sagt, dass sie sich gut aufgehoben fühlen. Ich finde, das ist Ansporn genug für diejenigen Länder, die noch zögern. Ein Land mit einem beispielhaft konsequenten Ausbau ist Rheinland-Pfalz. Bis auf Sachsen, das ausdrücklich keine Pflegestützpunkte möchte, und Thüringen, wo noch einmal nachgedacht wird, treffen nun aber alle Länder Vorbereitungen, die Stützpunkte einzurichten. Das zeigt, dass sich der richtige Gedanke langsam durchsetzt.

Wie lange sollte ein Beschäftigter unter voller Bezahlung des Arbeitgebers zur Pflege eines Angehörigen freigestellt werden?

Schmidt: Mit der letzten Pflegereform haben wir eine wichtige Neuerung durchgesetzt. Erstmals ist es für Beschäftigte möglich, sich kurzfristig bis zu zehn Tage frei stellen zu lassen, wenn ein naher Angehöriger plötzlich pflegebedürftig wird, und viele Dinge zu organisieren sind. Das ist eine große Erleichterung.

Wir Sozialdemokraten wollten, dass das nach dem Modell des Krankengeldes für Eltern, wenn Kinder krank sind, von den Pflegekassen bezahlt wird. Das war bei CDU und CSU nicht mehrheitsfähig. Außerdem haben wir einen neuen Anspruch auf Pflegezeit eingeführt. Berufstätige können sich bis zu sechs Monaten freistellen lassen. Damit kann ein Angehöriger sich auch längere Zeit um einen Pflegebedürftigen kümmern. Während der Zeit ist man sozialversichert, die Pflegezeit ist allerdings unbezahlt.

Viele Pflegebedürftige klagen über fehlende Pflegeberater. Steht der Rechtsanspruch nur auf dem Papier?

Schmidt: Nein, der Rechtsanspruch besteht. Gibt es in der Nähe noch keinen Pflegestützpunkt, hat jeder einen Rechtsanspruch auf Pflegeberatung und Fallmanagement, den die Pflegekasse einlösen muss. Auf Wunsch übrigens auch zuhause. Die Erfahrungen mit Pflegeberatung in den Stützpunkten sind durchweg sehr gut. Der Bedarf an jeweiliger individueller Pflegeberatung ist groß. Daher setze ich darauf, dass das Netz der Pflegeberater mit der steigenden Zahl an Stützpunkten in Zukunft größer und dichter wird.

Sozialverbände fordern wegen der Sprachbarrieren zwischen Pflegern und Bewohnern Dolmetscher in Altersheimen. Was halten Sie davon?

Schmidt: Das ist ein wichtiger Punkt. Auch Menschen mit Zuwanderungshintergrund werden älter. Wenn sie Hilfe und Pflege benötigen, müssen Verständigungsprobleme und kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden. Deshalb haben wir mit letzten Reform ins Gesetz geschrieben, dass den kulturell bedingten Unterschieden der Pflegebedürftigen Rechnung getragen werden soll. Es gibt beispielsweise ambulante Pflegedienste, die sich speziell der Pflege von nicht gut deutsch sprechenden Pflegebedürftigen verschrieben haben. Wichtig ist, dass die Pflege- und Betreuungskräfte eine hohe Sensibilität für die kulturell bedingten Bedürfnisse mitbringen.

80 Prozent der Deutschen wollen ihr Lebensende in vertrauter Umgebung verbringen. Das Altersheim gehört nicht dazu. Ist das Altersheim in der uns bisher bekannten Form ein Auslaufmodell?

Schmidt: Für immer mehr Menschen wird der Wunsch realisierbar, so lange wie möglich und mit so viel Würde wie möglich zuhause leben zu können. Es wird aber immer auch Menschen geben, die auf stationäre Hilfe angewiesen sind, weil sie zuhause einsam sind, weil keine Familie oder Nachbarschaft da ist, oder weil die Familie nach jahrelanger Pflege am Ende der Kräfte ist. Die letzten Jahre in vertrauter Umgebung verbringen zu können und gut versorgt und gepflegt zu sein, das ist genauso wichtig wie ein würdevolles Leben in stationären Einrichtungen. Deshalb brauchen wir beides.

Das Gespräch führte Michael Bröcker

(RP)
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