Nach Wagenknecht-Rückzug Wann macht Politik wirklich krank?

Berlin · Politiker verzichten auf Pausen und Privatleben. Ihr Lohn ist die Macht, der Preis oft ihre Gesundheit. Neues entsteht durch Langeweile. Die hat nur keiner mehr. Das sollte sich ändern, damit auch Macht nicht krank macht.

 Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht

Foto: dpa/Wolfgang Borrs

Ohne diese gnadenlose Unbarmherzigkeit gegen sich selbst geht es nicht. Wer Spitzenpolitiker werden und ganz oben bleiben will, darf keine Rücksicht auf sich nehmen. Bloß nichts verpassen oder Strippen aus der Hand geben, nur keine Schwäche zeigen. Bisher jedenfalls.

Heide Simonis hat 2002 über ihre Brustkrebserkrankung und die Operation an einem Samstag geschwiegen, am Montag mit dem Tropf unter dem Arm ihre Arbeit als schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin erledigt und ist nachts zurück ins Krankenhaus gefahren. Die anschließende jahrelange kräftezehrende Strahlen- sowie Hormontherapie hat die Sozialdemokratin von der Öffentlichkeit unbemerkt überstanden.

Gescheitert ist sie nur an einem (nie bekannt gewordenen) Abgeordneten, der ihr bei der geplanten Wiederwahl zur Regierungschefin 2005 überraschend die Stimme entzog und die dünne Mehrheit damit kippte. Dankbarkeit ist in der Politik keine Kategorie. 2011 ließ sich Angela Merkel an einem Donnerstagabend am Knie operieren und eröffnete am Sonntag die Hannover-Messe. Auf Krücken. Hätte die Kanzlerin die nicht gebraucht, hätte überhaupt niemand etwas von ihrem Meniskusriss erfahren. 2017 unterdrückte Minister Peter Altmaier tagelang höllische Zahnschmerzen mit hoch dosierten Medikamenten, weil er dem Wahlkampf einen höheren Rang als seinen Schmerzen einräumte.

Als dürften Politiker nicht wie anderen Menschen auch einmal krank werden, als wäre Krebs ein Makel, eine Knie-OP vermeidbar und Zahnschmerzen nicht schlimm genug, um ruhigen Gewissens die berechtigte und dringend nötige Auszeit zu nehmen. Stattdessen schleppen sich Parlamentarier und Regierende durch den Tag. Das Problem: Ihr Tag endet nicht. Termine, Gespräche, Verhandlungen, Endlosdebatten, Streit, Kompromisse, Entscheidungen, Interviews, Abendveranstaltungen, Nachtsitzungen, Auftritte am Samstag, Treffen mit Ehrenamtlichen am Sonntag. Das Handy immer am Leib oder auf dem Nachttisch. Auch an Feiertagen und im Urlaub.

Im digitalen Zeitalter immer und überall erreichbar. Sie müssen in der Lage sein, von jetzt auf gleich gehaltvoll in ein Mikrofon zu sprechen. Ein Leben ohne Pausen. Privates, Familie werden hintangestellt. Die Erfahrung, wichtig zu sein, treibt sie an, ein hoher Adrenalinspiegel kompensiert schlaflose Nächte. Wenn dann aber wirklich mal nichts ist, kann der Körper zusammenfallen.

Es gibt nicht viele Menschen, die das über Jahre aushalten. Sie müssen diese Arbeit nicht nur unbedingt machen wollen, sie brauchen dafür auch eine außergewöhnlich starke physische und psychische Konstitution. Legendär der CDU-Parteitag 1989 in Bremen, als Helmut Kohl trotz wahnsinniger Schmerzen eine Prostata-Operation hinauszögerte, weil er einen Putschversuch seines Generalsekretärs Heiner Geißler vermutete. Kohl behielt die Oberhand und kam nach dem Kongress mit Blaulicht in die Klinik.

In Relation zum Durchschnittseinkommen in Deutschland verdienen Politiker viel Geld, in Relation zu Managern mit vergleichbarer Verantwortung wenig. Das Jahresgehalt der Bundeskanzlerin mit einer Verantwortung für 80 Millionen Menschen liegt geschätzt bei rund 350.000 Euro. Ein Dax-Vorstandschef hatte 2018 durchschnittlich 7,4 Millionen Euro. Es geht nicht darum, Politiker zu bedauern. Keiner wird gezwungen, diese wichtige Arbeit zu machen. Aber so viele Menschen reißen sich nicht darum, das Volk zu vertreten, mal besser, mal schlechter, aber ganz überwiegend mit Engagement und Herzblut. Selbst wenn man krank ist, so wie derzeit die CDU-Politiker Jörg Kastendiek und Mike Mohring, die beide Krebs haben und trotzdem unermüdlich Wahlkampf in Bremen und Thüringen machen. Der Lohn für Spitzenpolitiker ist die Macht, der Preis unter Umständen ihre Gesundheit. Oft fragen sie sich erst spät, ob es das wert ist.

Sahra Wagenknecht regiert kein Land, aber gemeinsam mit Dietmar Bartsch die Linksfraktion. Seit Jahren führt sie zermürbende Auseinandersetzungen mit den beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger vor allem über die Flüchtlingspolitik. Wagenknecht und ihr Mann Oskar Lafontaine setzten ein Signal für begrenzte Aufnahmekapazitäten Deutschlands,  was ihnen als Rechtspopulismus ausgelegt wurde. Das wiederum hat Wagenknecht tief getroffen. Wer die 49-Jährige auf Marktplätzen vor einigen Tausend Leuten oder im Fernsehen vor einem Millionenpublikum erlebt, kann nicht glauben, dass ihr die Führung einer Fraktion große Schwierigkeiten bereiten würde. Die studierte Philosophin und Volkswirtschaftlerin ist aber auf dieser Arbeitsebene kein Kommunikationstalent. Sie liebt vielmehr das Lesen, die Stille, manchmal auch die Einsamkeit. Monatelang gab es Spekulationen, Wagenknecht solle gestürzt werden, ihre Chancen für eine Wiederwahl im September galten als gering. Nun verzichtet sie. Aus gesundheitlichen Gründen. Zu viel Stress, zu große Überlastung. Zwei Monate war sie ausgefallen.

Wann macht der Politikbetrieb krank? In der ARD-Sendung „Anne Will“ äußerte sich Wagenknecht am Sonntagabend dazu. Innerlich ausgebrannt sei sie gewesen und leer. Sie wolle weiter Politik machen, aber mit weniger Verantwortung. Sie mahnt: „Wir müssen menschlicher miteinander umgehen.“ In der Politik, in der Gesellschaft.

Was spricht eigentlich dagegen, dass auch Politiker einen freien Tag in der Woche haben oder Abendtermine zur Ausnahme werden? Vielleicht erhöht das die Bodenhaftung, weil sie mehr am „normalen“ Leben teilhaben würden. Welch ein bescheidener Wunsch: Zeit zum Nachdenken. Kreativität wird durch Langeweile, in kleinen Dosen, beflügelt. Nicht durch Erschöpfung.

(kd)
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