SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich „Ärgert mich, dass wir unsere Erfolge zu oft selbst kaputtmachen“

Interview | Berlin · Der SPD-Fraktionschef über Risiken der jüngsten Migrationsbeschlüsse, sein Festhalten an der Ampel-Koalition, Warnungen an die FDP zur Schuldenbremse und die Idee einer Kontaktgruppe zu Russland im Ukraine-Krieg.

Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. (Archiv)

Foto: dpa/Michael Kappeler

Herr Mützenich, wie konnte es dazu kommen, dass die Bundesregierung sich von der Union so treiben lässt in der Migrationspolitik?

Mützenich Wir haben uns nicht treiben lassen, sondern selbst bereits vor vielen Monaten Maßnahmen ergriffen, die wir nun ergänzen. Was noch hinzu kam, waren untaugliche, teilweise rechtswidrige Vorschläge der Union. Und täglich kommen neue hinzu. Ich kann das nur bedingt ernst nehmen.

Trotzdem wirkt es so, dass Beschlüsse zu den Grenzkontrollen und Zurückweisungen erst auf Druck der Union kamen. Und erst nach dem Attentat von Solingen waren Verschärfungen des Waffenrechts möglich, die nun im Bundestag diskutiert wurden.

Mützenich Wir hatten bereits vor dem Attentat von Solingen beispielsweise die Regelungen zu Abschiebungen verschärft. Das hätte etwa im Fall Solingen dazu geführt, dass man größere Möglichkeiten gehabt hätte, den späteren Täter abzuschieben, wenn diese Regelungen schon in Kraft gewesen wäre. Es ist also schon weit vor Solingen viel passiert in der Migrationspolitik.

Sehen Sie diesbezüglich noch Handlungsbedarf in den Bundesländern und Kommunen, um Abschiebungen wirklich umzusetzen?

Mützenich Ich begrüße es, dass die Landesregierung in NRW den Fall Solingen für sich aufarbeitet und prüft, was in der ministeriellen Verantwortung schiefgelaufen ist. Daraus müssen sich dann auch Konsequenzen für die politischen Verantwortlichen ergeben. Andere Länder sollten sich die Ergebnisse anschauen, um für sich einzuschätzen, ob sie ähnliche Schwachpunkte bei sich erkennen, die zu tödlichen Fehlern führen können. Dieselbe Erwartung habe ich an die Kommunen. Bundesgesetze funktionieren nur dann, wenn sie vor Ort auch ordentlich umgesetzt werden. Und nur dann gibt es eine Akzeptanz der Menschen für solche Maßnahmen.

Sind Sie ernsthaft davon überzeugt, dass die ab Montag geltenden Grenzkontrollen und die von der Ampel geplanten Verschärfungen etwa zum Tragen von Messern solche Attentate verhindern können?

Mützenich Wir werden niemals absolute Sicherheit schaffen können, um die Menschen vor solch brutalen Angriffen zu schützen. Trotzdem müssen wir natürlich alles versuchen, damit Extremisten und Straftäter gar nicht erst zu uns ins Land kommen und wir solche Menschen vor der Einreise identifizieren können. Dazu gehört auch, die Befugnisse der Nachrichtendienste gegebenenfalls zu erweitern.

Was meinen Sie damit?

Mützenich Wir müssen uns weiterhin ernsthaft damit beschäftigen, warum andere Nachrichtendienste mehr Erkenntnisse gewinnen und bessere Aufklärungsergebnisse erzielen als wir. Sind dies allein rechtliche Fragen oder sind die Dinge Ergebnisse struktureller und technischer Defizite? Das müssen wir mit den Bundesländern noch gezielter anpacken.

Machen Sie sich Sorgen, dass der europäische Kompromiss für ein gemeinsames Asylsystem ins Wanken gerät durch die Entscheidung der Bundesregierung für Grenzkontrollen und mehr Zurückweisungen?

Mützenich Sorgen um den europäischen Zusammenhalt sind durchaus berechtigt. Denn der GEAS-Kompromiss ist sehr fein austariert worden, um diesen Quantensprung in der europäischen Migrationspolitik überhaupt erreichen zu können. Die Reaktionen aus den Nachbarländern zeigen, dass sie von den neu angeordneten Grenzkontrollen nicht begeistert sind. Bis GEAS in Kraft tritt, halte ich den Schritt allerdings für richtig. Ich bin daher dafür, dass GEAS schneller kommt als bislang geplant. Wir müssen alles tun, um den Zusammenhalt in Europa nicht zu lange auf die Probe zu stellen.

Nach dem Schritt der Ampel ist doch aber damit zu rechnen, dass Länder mit EU-Außengrenzen erst recht keine Flüchtlinge mehr registrieren und sie lieber direkt nach Deutschland weiterleiten. Sonst müssten sie ja künftig mit mehr Flüchtlingen rechnen, die von Deutschland an sie zurückgewiesen werden.

Mützenich Das ist tatsächlich ein Risiko bei dem jüngsten Beschluss. Ich halte es aber für aussichtsreich, was Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) plant. Er wird mit den Regierungen dieser Länder über dieses Problem verhandeln und geeignete Lösungen finden. Ursula von der Leyen, die neue Kommission und das EU-Parlament sind da aber genauso gefordert.

Muss wegen der ausgeweiteten Grenzkontrollen die Bundespolizei besser ausgestattet werden?

Mützenich Ich hielte das für sehr wichtig. Neben einer zusätzlich geplanten Milliarde für die Sicherheitsbehörden sollen 1.000 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei entstehen. Das reicht für die von der Bundesregierung verhängten Maßnahmen an den Grenzen wahrscheinlich nicht aus, das zeichnet sich bereits ab. Aber das Thema wird bei den Haushaltsberatungen im Parlament eine Rolle spielen müssen. Da der Finanzminister unseren Spielraum derart eingeengt hat, wird das nicht leicht.

Spüren Sie Frust beim gemeinsamen Regieren in der Ampel?

Mützenich Diese Koalition hat vieles, was sie erreichen konnte, mit ihrem öffentlichen Auftreten wieder eingerissen. Das ruft bei mir bisweilen Ernüchterung hervor. Es ärgert mich, dass wir unsere Erfolge zu oft selbst kaputtmachen.

Niemand in Deutschland wünscht sich laut Umfragen eine Fortsetzung der Ampel-Koalition. Sie auch nicht?

Mützenich Trotz allen Ärgers übereinander halte ich nach wie vor die Ampel für die die richtige Kombination politischer Kräfte, um das Land in diesen schwierigen Zeiten nach vorn und nicht in die Vergangenheit zu führen. Jetzt und in Zukunft. Allerdings müssen einige mitentscheidende Leute ihr Handeln und ihr Reden dafür noch anpassen.

Haben Sie Ihre Bündnispartner mal gefragt, ob die auch Lust auf eine Ampel-Fortsetzung haben?

Mützenich Ich rede zur Zeit mit den Koalitionspartnern überhaupt nicht über das, was nach der nächsten Bundestagswahl kommen könnte. Ich rede mit ihnen über die nächsten zwölf Monate, in denen wir noch viele Dinge vorhaben.

Was sind die SPD-Herzensthemen bis zum Ampel-Ende?

Mützenich Bis zum Ende der Legislaturperiode wollen wir insbesondere das Tariftreuegesetz durchbringen und das Rentenpaket, bei dem es mit der SPD als Kanzlerpartei keine faulen Kompromisse geben wird. Stabile Renten sind eines unserer Wahlversprechen gewesen, an die wir uns halten, das ist auch für die junge Generation wichtig. Aber wir müssen uns natürlich auch um die schwächelnde Wirtschaft insgesamt und im Besonderen um die in die Krise gerutschten Unternehmen kümmern, allen voran etwa um Volkswagen, die Meyer-Werft und Thyssen Krupp aber auch ZF.

Wie wollen Sie die Arbeitsplätze bei diesen Unternehmen sichern?

Mützenich Es gibt keine Patentlösung für alle genannten Unternehmen und die weiteren Betriebe in Schieflage. Ich glaube, das muss man grundsätzlich mit den Vertretern der Industrie und den Gewerkschaften erörtern. Auch andere gehören an den Tisch. Der Staat kann nicht für die Managementfehler einstehen, aber wo Rahmenbedingungen Investitionen und die Sicherung von Arbeit behindern, müssen wir handeln. Wir haben für solche Ereignisse gute Beispiele aus der Vergangenheit.

An welchen Stellen werden die SPD-Haushälter auf Änderungen am Entwurf der Regierung pochen?

Mützenich Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist eine gute Kompromissvorlage für unsere Beratungen. Dennoch braucht es Änderungen. Die Ukraine-Hilfen hätten auch anders verbucht werden können. Dann hätten wir Freiräume gehabt. Beispielsweise in der Wirtschafts- und Industriepolitik. Hier brauchen wir deutlich mehr Investitionen als die bislang geplanten Milliardensummen im zweistelligen Bereich.

Das klingt so, als müsste die Schuldenbremse nach Ihrem Dafürhalten noch einmal ausgesetzt werden.

Mützenich Die Schuldenbremse erlaubt für besondere Fälle eine solche Ausnahme. Aber ich weiß auch, dass es mit der FDP schwierig wäre. Ich mache mir nichts vor. Aber: Wenn in den kommenden Wochen weitere große Unternehmen in Schieflagen geraten wie zuletzt Volkswagen oder Thyssen und in der unmittelbaren Folge auch viele kleine und mittlere Zulieferbetriebe, dann würde ich der FDP nahelegen, noch einmal neu darüber nachzudenken. Keine Partei kann in dieser Situation dabei zuschauen, wie Arbeitsplätze für immer verlorengehen.

Auch bezüglich der Ukraine ist das mal vereinbart worden. Was muss da eigentlich noch passieren, damit man sich in der Ampel auf einen Notlagenbeschluss einigen kann zur Aussetzung der Schuldenbremse?

Mützenich Die brutalen Angriffe Russlands auf die Energieinfrastruktur zeigen, vor welchen gewaltigen Herausforderungen das Land im kommenden Winter steht. Wenn das so weitergeht, könnten sich erneut Hunderttausende Flüchtlinge zu uns auf den Weg machen. Ich sehe die Kriterien für einen Notlagenbeschluss zur Aussetzung der Schuldenbremse allein mit Blick auf die Ukraine längst erfüllt. Jedoch fehlt der politische Wille bei unserem Koalitionspartner FDP.

Fühlen Sie sich in Ihrem damaligen Vorstoß zum Einfrieren des Konflikts bestätigt durch die jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers zu Friedensgesprächen mit der Ukraine und Russland?

Mützenich Der Bundeskanzler und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stimmen darüber ein, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, um die Bemühungen für Friedensgespräche zu intensivieren, und dass bei einem nächsten Friedensgipfel auch Russland dabei sein sollte. Das begrüße ich ausdrücklich. Es eröffnet auch anderen Ländern die Gelegenheit sich stärker für die Beendigung der Kampfhandlungen zu engagieren. Aus meiner Sicht wäre es nun an der Zeit, dass die westlichen Verbündeten eine Kontaktgruppe initiieren, um einen Prozess zu starten.

Aus welchen Ländern könnte diese Kontaktgruppe bestehen?

Mützenich Ich sehe da natürlich Länder wie China, Indien, die Türkei und Brasilien in der Verantwortung. In diesen Staaten wächst die Überzeugung, dass der russische Angriffskrieg zu einer Belastung werden kann. Daher kann die Arbeit einer Kontaktgruppe durchaus vielversprechend sein und diese kann eine wichtige Vermittlerrolle spielen.

In einer Woche wird in Brandenburg gewählt. Hat die Wahl Sprengkraft genug, um bei einer SPD-Niederlage den Rückhalt für Scholz in der Partei und der Fraktion zu zerstören?

Mützenich Die Wahl hat eine große Bedeutung insbesondere für die brandenburgische SPD, denn wir wollen stärkste politische Kraft mit Ministerpräsident Dietmar Woidke an der Spitze bleiben. Ich sehe aber keine unmittelbaren Auswirkungen für die Bundesregierung oder den Rückhalt für den Bundeskanzler in unserer Partei oder unserer Bundestagsfraktion.

Setzen Sie sich weiterhin für Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten ein?

Mützenich Ich habe den Kanzler als jemanden erlebt, der sich besonnen und mit großer Charakterstärke den Krisen in seiner Amtszeit gestellt und sie gemeistert hat. Das war gut für unser Land und so soll es bleiben.

Werden Sie eigentlich noch einmal für den Bundestag kandidieren?

Mützenich Wir machen die Planung für die Bundestagswahl zur Aufstellung in der Kölner SPD zu Beginn des kommenden Jahres. Dann werde ich mich dazu äußern.

Haben Sie sich denn entschieden?

Mützenich Ich werde mich bis zum genannten Zeitpunkt entscheiden und mich dann dazu äußern.