Rekordzahl von Asylbewerbern Wie viele Flüchtlinge sind verkraftbar?

Düsseldorf · Eine neue Rekordzahl von Asylbewerbern wird in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Das stellt die Politik vor gewaltige Herausforderungen. Der Flüchtlingskommissar der UN warnt bereits vor einer Überforderung. Aber wie viele Flüchtlinge sind verkraftbar? Eine Analyse.

So verteilen sich Flüchtlinge auf Europa
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Foto: Köhlen, Stephan (TEPH)

Von "Staatsnotstand" sprach der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, als die Zahl der Asylbewerber im Jahr 1992 auf 440.000 hochschnellte. Kohl zwang damit die SPD, das freie Asylrecht nach Artikel 16 des Grundgesetzes im Hauruckverfahren einzuschränken. Über 20 Jahre später kommen bis zu 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Doch Kohl-Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) hält eisern an ihrer Äußerung fest: "Die Zuwanderung von Menschen ist ein Gewinn für uns alle."

Tatsächlich bleiben die Menschen in Deutschland erstaunlich ruhig bei den ständig steigenden Flüchtlingszahlen. Für SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann ist die Haltung der Bevölkerung angesichts des Zustroms von Asylbewerbern geradezu vorbildlich von Toleranz und Hilfsbereitschaft geprägt. "Wir werden dafür im Ausland regelrecht bewundert", meint der SPD-Politiker.

Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht — vor Konflikten und Bürgerkriegen, aber auch vor Hunger und Seuchen und nicht zuletzt, weil sie sich woanders ein besseres Leben erhoffen. Die Zahl der kriegerischen Auseinandersetzung ist zuletzt deutlich angestiegen, und die betroffenen Menschen, die ihre Existenz verloren haben, machen sich auf die Suche nach einer neuen.

Zeltstadt für Flüchtlinge in Duisburg
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Foto: Christoph Reichwein

Deutschland hat sich bereit erklärt, einen Großteil dieser Menschen aufzunehmen, derzeit die meisten in Europa. Selbst wenn man die Flüchtlinge ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt, geben nur die Schweden, Schweizer, Österreicher und Dänen mehr Asylbewerbern ein Zuhause als die Deutschen. Angesichts der neuen Rekordzahl drängt sich die Frage auf, wie viele Flüchtlinge die Bundesrepublik verkraften kann. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres verlangt eine Entlastung Deutschlands. Und auch SPD-Fraktionschef Oppermann glaubt, dass es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit gibt. "Man nennt sie klugerweise nicht."

Am einfachsten ist die Frage ökonomisch zu beanworten: Eine Million Flüchtlinge kosten den Staat nach Schätzung des Bielefelder Bevölkerungswissenschaftlers Herwig Birg rund zehn Milliarden Euro. "Das ist für ein Land mit dem Reichtum Deutschlands verkraftbar", meint der Wissenschaftler. Selbst wenn im kommenden Jahr die gleiche Zahl noch mal vor der Tür stünden, wäre zwar eine gewaltige Kraftanstrengung nötig. Aber die deutsche Einheit verschlang Jahr für Jahr rund 100 Milliarden Euro, ohne dass die Wirtschaftskraft des Landes ernsthaft gefährdet war.

Dennoch warnt der Bevölkerungsexperte vor einer grenzenlosen Zuwanderung. "Es könnte schnell einen Stimmungswechsel geben, wenn Flüchtlinge dauerhaft mehr kosten als sie bringen." Die Bürger sind bereit, in einer Notsituation — wie etwa bei den syrischen Flüchtlingen — Opfer zu bringen. Eine Dauerfinanzierung von Zuwanderern aus den Sozialversicherungssystemen lehnen die meisten vehement ab.

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Foto: dpa, kc jak

Das ist freilich angesichts des robusten Arbeitsmarkts in Deutschland nicht zu erwarten. Schließlich kommen neben den Asylbewerbern auch viele junge Leute aus Euro-Krisenstaaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland, um hierzulande Arbeit zu finden. Noch sind genügend Jobs vorhanden. Doch die Gleichung, dass die Zuwanderer in einem schrumpfenden und alternden Land die demografischen Lücken stopfen könnten, gilt unter Experten als naiv. "Deutschland profitiert von den Neuankömmlingen nur sehr bedingt", erklärt Bevölkerungsökonom Birg.

So würde die Beschäftigung zwar zunehmen und die hohe Nachfrage zu einer besseren Auslastung der Kapazitäten führen, was wiederum in höhere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge münden würde. Gleichzeitig sei die Qualifikation der Zuwanderer niedriger als die der Deutschen. "Damit sinkt der Wohlstand pro Kopf", folgert der Ökonom. Unternehmen und hochqualifizierte Arbeitnehmer dürften profitieren, aber der Druck auf dem Niedriglohnsektor würde anhalten.

Der Wirtschaftswissenschaftler Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim, hat mit seinem Team genau ausgerechnet, was Migranten den Staat kosten und was sie ihm bringen. Nimmt man alle Transferzahlungen zusammen, so erreichen Ausländer in Deutschland einen positiven Finanzierungssaldo. Im Jahr 2012 lag er bei 3300 Euro pro Kopf, bei den Deutschen allerdings bei 4000 Euro. Nimmt man alle zukünftigen Zahlungen und Leistungen aller Altersgruppen zusammen, kommen die Migranten auf einen Saldo von 44.000 Euro als Barwert der Ein- und Auszahlungen.

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Foto: dpa, ude htf bwe

Die Deutschen führen 111.000 Euro mehr an den Staat und die Sozialversicherungssysteme ab, als sie erhalten. Daraus ergibt sich eine Umverteilung zugunsten der Ausländer, die wegen deren geringeren Einkommen auch politisch gewollt ist. Bezieht man auch die staatlichen Aufgaben wie Infrastruktur und Bildung mit ein, erhalten beide Gruppen mehr vom Staat als sie einzahlen, woraus sich eine ausgewiesene und versteckte öffentliche Verschuldung ergibt. Hier kommen die Ausländer auf ein Defizit von 196.000 Euro, die Deutschen nur auf eines von 41.000 Euro.

Zuwanderer mit niedrigerer Qualifikation tragen also weniger zur staatlichen Finanzierung bei und verändern die Umverteilung, selbst wenn sie arbeiten. Das gilt auch angesichts der vielen Ärzte, Ingenieure und Techniker, die aus diesen Ländern einwandern.

Hinzu kommen die kulturellen Probleme. Einzelne Bevölkerungsgruppen sind gut integrierbar. Aber wenn es Konflikte zwischen Zuwanderern gibt, werden die nach Deutschland übertragen. Dazu zählen die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden oder die religiösen Zwiste, die in Ländern wie Irak oder Syrien bestehen. Auch zwischen Arabern aus Nordafrika und Schwarzen aus Westafrika kommt es in Unterkünften immer wieder zu schweren Konflikten. Und libanesische Familienclans schaffen sich in Städten wie Berlin oder Duisburg rechtsfreie Räume. Andere Migrantengruppen stellen das islamische Gesetz über das deutsche Rechtssystem.

Aus all diesen Gründen leiten die meisten Experten eine Obergrenze für die Aufnahmefähigkeit ab. Sie auf Euro und Cent zu beziffern, ist freilich unmöglich. Und in der augenblicklichen Situation überwiegt die Bereitschaft zur Hilfe für Menschen in Not.

(kes)
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