Halbzeit der Großen Koalition Regierung unter Reformdruck

Berlin (RPO). Rechtzeitig zur Halbzeit der Großen Koalition ist in der Regierung neuer Krach entbrannt. SPD-Vorsitzender Kurt Beck warf der Union vor, sich nicht den sozialen Herausforderungen der Zeit zu stellen. Doch auch von außen sieht sich die Regierung Kritik ausgesetzt. FDP und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag fordern für die zweite Hälfte der Amtszeit mehr Reformeifer.

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat der Union vorgeworfen, ihr "Neoliberalismus" hänge "in der Luft". "Er ist eine Ideologie ohne Erdung", schreibt Beck in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Der Gegensatz zwischen Staat und Freiheit sei "ein künstlicher". Der Neoliberalismus der Union habe "den Menschen, die für ihre Kinder gute öffentliche Schulen wollen, nichts zu sagen", und er gehe über die hinweg, die Schutz vor Willkür und Diskriminierung im Wirtschaftsleben erwarteten.

Das "Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit" ist nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden "symptomatisch für eine Schwundform des Liberalismus, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt und den solidarischen Bürger zum egoistischen Bourgeois zurückentwickeln will".

Elementare Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft lösten sich mehr und mehr auf. Geregelte Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern "werden durch die einseitig ausgeübte Vormachtstellung der Kapitalgeber ersetzt". Am Ende stehe dann eine Gesellschaft, die selbst nach dem Prinzip der Börse funktioniere: "Nicht Leistung entscheidet, sondern der schnelle Gelegenheitsgewinn", schreibt Beck.

Doch auch aus der Wirtschaft hagelt es Kritik für die Koalition. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun betonte am Sonntag, die bisherige Bilanz der großen Koalition falle "aus Sicht der Wirtschaft verhalten aus". Er rate deshalb "dringend, mit einem ambitionierteren wirtschaftspolitischen Fahrplan in die nächsten zwei Jahre zu gehen".

Im August berät Koalition über Arbeitsprogramm

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel kritisierte: "Die Regierung aalt sich jetzt in der Konjunktursonne und im Abglanz von Heiligendamm." Die sprudelnden Steuereinnahmen müssten aber genutzt werden, um die aufgeschobenen Strukturreformen in Angriff zu nehmen.

Die Bundesregierung hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass das Kabinett im August auf einer Klausurtagung über das Arbeitsprogramm für die zweite Hälfte der Legislaturperiode beraten will. Braun mahnte, die Koalition müsse den konjunkturellen Aufschwung nutzen - "ganz nach dem Motto: Reformiere in der Zeit, dann hast du in der Not." Vor allem am Arbeitsmarkt sei der Handlungsdruck ungebrochen.

Der DIHK-Präsident kritisierte: "Von den positiven Beschäftigungseffekten des Aufschwungs profitieren Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte bislang wenig." Gleichzeitig seien viele Unternehmen schon heute mit einem Mangel an Fachkräften konfrontiert, der noch zunehmen werde. Lockerungen beim Kündigungsschutz und die rechtliche Absicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit seien deshalb "genauso überfällig wie Erleichterungen bei der Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer".

Niebel warnte die große Koalition davor, den Fehler des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröders (SPD) "mit einer neuen Politik der ruhigen Hand" zu wiederholen. Er fügte hinzu: "Aus kleinen Schritten wird Stillstand mit gegenseitigem Belauern und ersten Scharmützeln der künftigen Wahlkampfgegner Union und SPD." Deutschland brauche aber "eine handlungsfähige Regierung statt einer regierenden Unfähigkeit zum Handeln".

Kauder: Große Koalition eine Ausnahme

Niebel betonte, die FDP habe sich auf den Fall eines vorzeitigen Endes der großen Koalition eingestellt. Er kündigte an: "Der FDP-Parteitag nächste Woche wird zeigen: Wir sind bereit und haben ein komplettes liberales Angebot. Gut möglich aber, dass sich Schwarz und Rot vor dem Wähler fürchten, sich deshalb aneinander klammern bis zum Ende 2009."

Auf die Frage, ob auch die SPD als Regierungspartner für die FDP in Frage komme, sagte Niebel: "Jetzt geht es uns nicht um künftige Parteienkoalitionen." Dies werde "alles zu seiner Zeit entschieden". Der FDP-Generalsekretär fügte hinzu: "Wir sehen allerdings die tatsächlich beschränkten Möglichkeiten zu liberalen Politikansätzen bei der SPD, wie das schon 2005 der Fall war. Deshalb haben uns die Lockrufe Gerhard Schröders ebenso wenig gereizt wie die heutigen von den Herren Beck, Müntefering und Struck."

Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) will die große Koalition nicht über die nächste Bundestagswahl hinaus weiterführen. "Im Interesse der Demokratie sollten große Koalitionen die Ausnahme sein", sagte Kauder Der "Bild am Sonntag". Wunschpartner für die Bildung einer neuen Regierung sind für den CDU-Spitzenpolitiker die Liberalen. "Mit wem wir nach 2009 regieren, entscheidet unter anderem das Wahlergebnis. Die größte Schnittmenge sehe ich nach wie vor bei der FDP", sagte Kauder.

Ein vorzeitiges Scheitern der großen Koalition hält der Fraktionsvorsitzende für unwahrscheinlich. Kauder: "Wir haben noch genügend Gemeinsamkeiten. Ich sage: Koalitionen brechen nie an Sachfragen, sie brechen vielmehr dann, wenn die führenden Personen nicht mehr miteinander können. Peter Struck von der SPD, Peter Ramsauer von der CSU und ich verstehen uns sehr gut und arbeiten gut zusammen."

(afp)
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