Kramp-Karrenbauer regt Neuwahl an „Thüringer CDU handelte gegen unseren Willen“

Erfurt · Erstmals hat die AfD einem Ministerpräsidenten in Deutschland ins Amt verholfen. Das könnte die große Koalition in Berlin massiv belasten. Am frühen Abend schaltet sich die CDU-Chefin ein – und regt Neuwahlen an.

 Björn Höcke (AfD) gratuliert Thomas Kemmerich (FDP) zur Wahl zum Ministerpräsidenten. (Archiv)

Björn Höcke (AfD) gratuliert Thomas Kemmerich (FDP) zur Wahl zum Ministerpräsidenten. (Archiv)

Foto: dpa/Martin Schutt

Mit versteinerter Miene vernimmt Bodo Ramelow, der in diesem Moment noch amtierende thüringische Regierungschef, das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag. Auf ihn entfallen 44 Stimmen, sagt Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linke). Und dann folgt die Sensation. Der Kandidat der kleinsten Fraktion im Landtag, Thomas Kemmerich von der FDP, erzielt 45 Stimmen, sagt Keller. Ramelow blinzelt, schüttelt ungläubig den Kopf, jemand klopft ihm tröstend auf die Schulter. Keller fragt den FDP-Abgeordneten Kemmerich nur Sekunden später: „Nehmen Sie die Wahl an?“ Und Kemmerich sagt „Ja“.

Ramelow, der mit Abstand beliebteste Politiker Thüringens, ist in diesem Moment um kurz nach halb zwei nicht mehr Ministerpräsident. Er wurde in geheimer Abstimmung abgewählt von den Abgeordneten der CDU, der FDP – und der AfD. Die breite Mehrheit der CDU-Abgeordneten hat sich entschieden, im dritten und entscheidenden Wahlgang den FDP-Kandidaten zu wählen, bei dem das Risiko bestand, dass ihn auch die AfD unterstützen könnte. Fast geschlossen gingen CDU und FDP in diese taktische Falle der Rechtspopulisten: Für den eigenen Kandidaten, den parteilosen ehrenamtlichen Bürgermeister der 350-Seelen-Gemeinde Sundhausen, Christoph Kindervater, stimmte kein einziger der 22 AfD-Abgeordneten.

Kostenpflichtiger Inhalt Die Wahl Kemmerichs löst ein politisches Erdbeben aus, das weit über die Grenzen Thüringens hinausreicht. Diese Wahl wird Auswirkungen auf die Bundesparteien haben, möglicherweise auch auf den Bestand der großen Koalition in Berlin. Entgegen ihrer klaren Beschlusslage und aller Ankündigungen vor der Wahl hat die CDU nun doch gemeinsame Sache mit der AfD gemacht – und das sogar bei der wichtigen Wahl eines Ministerpräsidenten. Für die FDP dürften die Folgen nicht minder gravierend sein. Auch bei ihr ist die behauptete Brandmauer zur AfD gebrochen.

„Das ist ein absoluter Tabubruch, weil beide Kostenpflichtiger Inhalt Parteien zuvor jegliche Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen haben“, sagt der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. „Das ist ein Dammbruch, denn bisher hielt die Brandmauer von CDU und FDP gegen den Rechtsextremismus ja noch weitgehend.“ Selbst Thomas Kemmerich, ein aus Aachen stammender 54-jähriger Unternehmer, scheint von seiner Wahl zum Ministerpräsidenten überrascht zu sein. Er hat weder eine Rede vorbereitet noch verfügt er über eine Regierungsmannschaft, geschweige denn ein Regierungsprogramm. Erst zwei Stunden nach seiner Wahl hält er im Landtag eine kurze Ansprache. „Wer Kemmerich gewählt hat, hat einen erbitterten Gegner von allem gewählt, das auch nur den Hauch von Faschismus aufweist“, erklärt er und erntet spöttisches Gelächter aus den Reihen von Rot-Rot-Grün. „Ich bin Anti-AfD, Anti-Höcke“, sagt Kemmerich. Die „Brandmauern“ gegenüber der AfD blieben bestehen. Kemmerich fordert CDU, SPD und Grüne auf, mit ihm als Ministerpräsidenten zusammenzuarbeiten.

SPD und Grüne dürften dem Aufruf allerdings schwerlich folgen. Kemmerich könnte mit der Union eine Minderheitsregierung bilden, die aber noch weniger Rückhalt hätte, als sie Ramelow mit einem rot-rot-grünen Bündnis gehabt hätte. Dennoch ist nach dieser Ansprache klar: Kemmerich wird nicht sofort zurücktreten und Neuwahlen auslösen – zumindest nicht stante pede. Die Parteizentralen von CDU und FDP in Berlin brauchen Stunden, bis sie endlich reagieren. FDP-Chef Christian Lindner ist immerhin schneller als die Union. Auch Lindner betont, die FDP werde nicht mit der AfD kooperieren. Er appelliert wie Kemmerich an Union, SPD und Grüne, mit der FDP in Thüringen zu kooperieren. Sollten sich die drei Parteien dem „fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig“, sagt Lindner. FDP-Vize Wolfgang Kubicki erinnert Rot-Rot-Grün noch daran, dass die drei Parteien vor der Wahl selbst eine Minderheitsregierung bilden wollten, die auf Unterstützung von Union und FDP angewiesen gewesen wäre. Die CDU schickt ihren Generalsekretär Paul Ziemiak wenig später vor. Ziemiak greift die FDP scharf an. „Die FDP hat unser ganzes Land in Brand gesteckt“, sagt er. Aber auch CDU-Abgeordnete in Thüringen hätten billigend in Kauf genommen, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen „von Nazis“ gewählt werden konnte. Das sei keine Grundlage für eine stabile Regierung oder für eine bürgerliche Politik. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen“, schließt Ziemiak.

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer braucht lange, bis sie sich am Nachmittag endlich äußert. In ihrer Partei brennt es, weil der thüringische CDU-Vorsitzende Mike Mohring entgegen aller Absprachen nicht verhindert hat, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen von Union und AfD ins Amt kommen konnte. Kramp-Karrenbauer ist zutiefst sauer auf Mohring. Das Stimmverhalten der Thüringer CDU-Landtagsfraktion sei falsch gewesen, sagt sie später in Straßburg. Die Fraktion habe „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ gehandelt. Auch sie fordert Neuwahlen. Am Abend hat das Präsidium der Bundes-CDU einstimmig Neuwahlen in Thüringen empfohlen.

Auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat die Wahl Kemmerichs scharf kritisiert. „Niemals darf sich ein Regierungschef von Extremisten, auch nicht in schwierigen Mehrheitssituationen, auch nicht zufällig, wählen lassen.“ Das teilte Laschet am Mittwoch in Düsseldorf mit.

„Jedwede Kooperation, Zusammenarbeit, Duldung oder Koalition mit der AfD ist für Christdemokraten inakzeptabel. Zu einer Situation wie in Thüringen hätte es nie kommen dürfen.“ Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und in Zeiten rechtsgerichteter Hetze müsse der Kompass der CDU klar sein: „Die AfD ist nicht bürgerlich, sie ist der Feind unserer freiheitlichen Grundordnung.“ Im Mordfall Lübcke geht die Bundesanwaltschaft von einem rechtsextremen Hintergrund aus.

Für die SPD hat das Stimmverhalten der CDU Folgen auch für die große Koalition in Berlin. Die Wahl sei ein abgekartetes Spiel und müsse korrigiert werden, twittert Parteichefin Saskia Esken. Die SPD habe dringende Fragen an die CDU. Auch Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) verlangt schnelle Antworten von der CDU. „Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache“, schreibt er auf Twitter. Es stellten sich sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU. Eine Zusammenarbeit mit der AfD von Landesparteichef Björn Höcke sei für die SPD „absolut unakzeptabel“.

Derweil fordert NRW-SPD-Chef Sebastian Hartmann wegen der Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen eine harte Aussprache mit der CDU über die weitere Zusammenarbeit in der großen Koalition. "Wir müssen zügig einen Koalitionsausschuss herbeiführen", sagte Hartmann unserer Redaktion. "CDU und FDP müssen alles dafür tun, damit dieser unsägliche Tabubruch korrigiert wird", sagte Hartmann weiter. Bei der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen handele es sich um eine mehr oder minder offene, abgekartete Kooperation mit der AfD: "Mit Naivität oder Blödheit kann sich da niemand herausreden."

Für die Grünen ist der Fall an diesem Nachmittag klar: Union und FDP hätten ihr Wort gebrochen. „Die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD ist kein Unfall, sondern ein bewusster Verstoß gegen die demokratischen Grundwerte unseres Landes“, sagt Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die aus Thüringen stammt. „Frau Kramp-Karrenbauer und Herr Lindner müssen ihre Landesverbände in Thüringen ausschließen, wenn sie an dem Pakt mit Rechtsextremisten festhalten.“ Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock fordert Kemmerich zum Rücktritt auf. Tue er das nicht, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen, fordert auch sie. So weit aber dürften beide Parteien nicht gehen.

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