Zahlreiche Aufnahmestopps Zwei Millionen Menschen kommen aktuell zur Tafel

Exklusiv | Berlin · Rund zwei Millionen Menschen in Deutschland kommen aktuell zur Tafel – seit Jahresbeginn ein Anstieg von 50 Prozent. Ein Drittel der Tafeln haben deshalb Aufnahmestopps verhängt. Der Vorsitzende des Tafel Dachverbands, Jochen Brühl, kritisiert die bisherigen Hilfspakete und fordert mehr Solidarität der Gesellschaft.

 Die Tafeln in Deutschland können nur so viele Lebensmittel verteilen, wie sie vorher gespendet bekommen. Aktuell ist nie Nachfrage so groß wie noch nie, aber die Spenden nehmen ab.

Die Tafeln in Deutschland können nur so viele Lebensmittel verteilen, wie sie vorher gespendet bekommen. Aktuell ist nie Nachfrage so groß wie noch nie, aber die Spenden nehmen ab.

Foto: dpa/Felix Kästle

Seit ihrer Gründung vor fast 30 Jahren haben die Tafeln in Deutschland noch nie so vielen Menschen geholfen wie jetzt. „Seit Jahresbeginn verzeichnen wir einen Anstieg der Kundinnen und Kunden von 50 Prozent. Das sind etwa zwei Millionen Menschen“, sagt Jochen Brühl, Vorsitzender des Tafel Dachverbands. Die tatsächliche Nachfrage sei allerdings noch größer. „Rund ein Drittel der Tafeln sind so überlastet, dass sie Aufnahmestopps verhängen mussten“, so Brühl.

Es ist keine leichte Aufgabe für die rund 60.000 Helferinnen und Helfer: „Hilfesuchende Menschen wegschicken zu müssen, ist psychisch enorm belastend und führt zu einer großen Anspannung“, sagt der Tafel-Vorsitzende.

Die rund 960 Tafeln sammeln ehrenamtlich überschüssige Lebensmittel von Händlern und Herstellern und verteilen sie an Bedürftige. Die Tafel versteht sich aber nicht als Versorger, sondern als Unterstützer. „Wir können nicht auffangen, was der Staat nicht schafft“, sagt Brühl. Verteilt werden kann nur das, was zuvor gespendet oder gerettet wurde. Und während die Zahl der Hilfesuchenden steigt, gehen die Lebensmittelspenden zurück, so Brühl. „Vielen Tafeln fehlen Lebensmittel, um mehr Menschen helfen zu können“, erklärt Brühl.

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Foto: dpa/Federico Gambarini

Die Hilfe der Tafeln nehmen vor allem ALGII-Empfänger, Rentner und seit Beginn des Ukrainekrieges auch viele Geflüchtete war. Aber es kommen auch immer mehr Menschen, die durch steigende Preise nicht länger von ihrem Einkommen allein leben können, sagt Brühl. Auffallend sei auch, dass nicht nur immer mehr Menschen kommen, sondern auch, dass die Not der Einzelnen zunimmt. „Die Menschen kommen, weil wirklich kein Geld mehr übrig ist für Lebensmittel. Die Menschen haben große Existenzängste und Sorgen, wie sie Lebensmittel, Wohnen, Heizen zahlen können“, erläutert der Tafel-Chef. Mit Blick auf den Winter rechnet Brühl mit einer weiteren Zuspitzung der Lage.

Die aktuellen Hilfen bezeichnet Brühl als „insgesamt unzureichend“. „Ein großes Problem ist, dass es zu lange dauert, bis die Entlastungen tatsächlich ankommen. Menschen, die zu den Tafeln kommen, haben keine Reserven. Sie können nicht einige Monate überbrücken“, so Brühl und ergänzt: „Armutsbetroffene Menschen brauchen jetzt schnelle Hilfen und nicht erst, wenn der Winter da ist.“ Außerdem sei es ein Problem, dass viele Menschen nicht wüssten, wo sie Hilfen beantragen können.

Die Tafeln sind aus Brühls Sicht krisenerprobt. Zudem sei die Kraft der Zivilgesellschaft enorm. „Während Regierungen noch zögern und diskutieren, packen wir längst an – und helfen so vielen Menschen wie nie zuvor.“ Gleichzeitig appelliert Brühl an die Solidarität der Gesellschaft, denn die Belastungsgrenze der Helferinnen und Helfern sei erreicht. Ob es an ehrenamtlicher Hilfe, haltbaren Lebensmitteln oder Geldspenden fehlt, ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Wer helfen will, fragt am besten bei der örtlichen Tafel nach. „Wir sind ein reiches Land, wir können es schaffen, dass alle Menschen gut durch diesen Winter kommen“, glaubt Brühl.

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