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Gastbeitrag Im Osten nichts Neues

Dresden · Nirgendwo sind die Proteste gegen Deutschlands Migrationspolitik derart heftig wie in Sachsen. Doch warum ist das so? Manche Gründe sind sachsenspezifisch, manche osttypisch.

 Teilnehmer einer Demonstration der islamfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden.

Teilnehmer einer Demonstration der islamfeindlichen Pegida-Bewegung in Dresden.

Foto: dpa/Sebastian Kahnert

Pegida kam in Sachsen auf und blieb nur dort am Leben, im aufsässigen Ursprungsland der Friedlichen Revolution von 1989. Im Osten hatte die AfD ihre ersten und zudem größten Wahlerfolge. Dort wird sie diese auch weiterhin feiern. Proteste gegen Deutschlands Migrationspolitik sind nirgendwo derart heftig wie im auf sich selbst stolzen Sachsenland. Dort gab es auch – pro Kopf der Bevölkerung – die meisten Anschläge auf Asylbewerberheime. Warum?

Manche Gründe sind sachsenspezifisch, manche osttypisch. Die Standardliste beginnt so: Ostdeutsche sind geprägt vom Nachwirken zweier Diktaturen, also in der Demokratie immer noch nicht angekommen. Sie nutzen deren Pluralismus zum Ausleben von Radikalismus, statt kultiviert zu diskutieren wie unsereins. Der SED-Antifaschismus war bloß aufgesetzt; also gab es keine echte Aufarbeitung der Nazi-Diktatur. Deshalb wirkte vielerlei Rechtsextremismus ungebrochen fort – schon in der DDR, und heute erst recht.

Einst von Westmedien abgeschnitten, kommen Ossis mit dem modernen Zeitgeist immer noch nicht zurecht, und mit dem weltoffenen Wesen der Wessis schon gleich gar nicht. Auf das reagieren sie verängstigt, vernagelt, im Wortsinn reaktionär. Viel mehr als – leider! – manche Westdeutsche kultivieren sie alltagspraktischen Rassismus, merkwürdigerweise auch ohne Ausländer.

Rechtsgerichtete CDU-Regierungen haben das Fortwirken solchen Ungeists verkannt, ja abgestritten. Deshalb verfestigten sich gerade in Sachsen Schmuddelecken voller völkischem Nationalismus. Zudem wurde die politische Bildung vernachlässigt. Also hat man – gerade im Pisa-starken Sachsen – eine „Demokratie ohne Demokraten“. Klar, dass man schon Pediga nicht entschieden genug entgegentrat – und rechtsradikale Menschenjagden in Chemnitz jetzt abstreitet.

Etliche dieser Erklärungen treffen Richtiges. Im Osten gab es keine jahrzehntelang gemeinsame Entwicklung von Demokratie, Wohlstand und daraus resultierender Gelassenheit. Es entstand nicht schrittweise eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft, wie sie Köln oder Berlin prägt. Und politische Bildung wird vielfach abgelehnt als politische Indoktrination mit nur anderem Vorzeichen.

Doch wichtiger war die kollektive Grunderfahrung der jetzt gut Vierzigjährigen und Älteren: Systemruin durch tatsachenignorante Politik, herbeidemonstrierter Systemzusammenbruch – und Machtübernahme durch Westdeutsche. Die glaubten alles besser zu wissen und setzten, gegen erfahrungsbegründete Ablehnung, vieles Ungute durch. Auch wurden sie in Verwaltung, Wissenschaft und Kunst zu einer neuen Oberschicht. Die behandelt die Einheimischen oft wie geistig und ethisch unterlegen, sobald „das Volk“ anders empfindet als „die da oben“.

Die so entstandenen Spannungen wurden stärker, als die nach großen Umbrüchen neu stabilisierte Alltagswelt sich durch die Ansiedlung von Geflüchteten fühlbar zu verändern begann. Seit 2015/16 geschieht das in so gut wie allen Kommunen des zuvor recht „fremdenfreien“ Ostdeutschland.

Vor allem von den mittleren Bildungsrängen abwärts wird weithin empfunden, dass ein allzu fahrlässig gehandhabtes Zuwanderungs- und Integrationsgeschehen nun ganz Deutschland in eine ähnlich üble Sackgasse wie die dränge, in welche die SED mit ihrer fehlerhaften Wirtschaftspolitik einst die DDR führte. Wie damals nähme die Politikerschaft selbst klare Warnzeichen nicht ernst. Auch sachlich begründete Kritik sei so unwillkommen wie früher. Sie würde allenfalls auf politisch andere, doch im Einzelfall nicht weniger bedrückende Weise geahndet.

Derzeit verschärft das alles jene im Osten ohnehin sehr skeptische Einschätzung bundesdeutscher Demokratie, die sich schon ab dem Herbst 1990 einstellte: nämlich beim Zusammentreffen von Demokratieaufbau und Wirtschaftszusammenbruch. Und je stärker man einst einer Partei zugetraut hatte, die realen Probleme des Landes zu lösen, umso schwerer wiegt jetzt die Enttäuschung über sie.

Am härtesten trifft es, gerade in Sachsen, die CDU: Deren Bundesvorsitzende wurde zum Gesicht genau jener Migrationspolitik, über die sich mehr und mehr Ernüchterung verbreitet. Grüne, Sozialdemokraten und Linke werden erst recht angefeindet, weil sie diese Politik freudig unterstützten und weiterhin wie moralisch alternativlos behandeln.

Die AfD hingegen, florierend im von der Union ohne Not aufgegebenen politischen Raum ab der rechten Mitte, bietet sich da als Ventil und Sturmgeschütz an. Zu beiden Zwecken wird sie von immer mehr Empörten gewählt. Ereignisse wie in Chemnitz und deren mediale Darstellung beschleunigen dabei, was sich im Empfinden und Zusammenwirken vieler Einzelner lange schon als Radikalisierung vollzieht.

Doch es geht um viel mehr, nämlich um eine tiefgreifende, dauerhafte und zeitweise wohl systemdestabilisierende Umschichtung unseres Parteiensystems: klar hin zur Rechten, unübersehbar unter Erosion von SPD und CDU, und – jetzt schon erkennbar, in der Beurteilung aber noch umstritten – im wechselseitig polarisierenden Machtaufstieg von AfD und Grünen.

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