Pressestimmen zur "Ehe für alle" "Angela Merkel überrascht erneut Freund und Feind"

Die überraschende Entscheidung, die Ehe für alle doch noch in dieser Legislaturperiode zur Abstimmung im Bundestag zu bringen – und zwar ohne Fraktionszwang – ist von den Medien im In- und Ausland reichlich kommentiert wurden. Wir werden einen Blick in die Meinungsspalten.
Rheinische Post: "Inhaltlich ist die Entscheidung richtig: Die Gesellschaft ist längst soweit, dass eine Mehrheit auch Homosexuellen das Recht einräumen möchte, Kinder zu adoptieren und sich auch formal gegenseitig Ehemann oder Ehefrau zu nennen. Diese Entscheidung, wenn sie am Freitag im Bundestag fällt, wird nicht nur jenen homosexuellen Paaren das Leben erleichtern, die sich Kinder wünschen. Sie ist auch ein Symbol für die Gleichstellung Homosexueller und wird den gesellschaftlichen Wandel in dieser Frage weiter vorantreiben."
Berliner Morgenpost: "Oft nervt der Wahlkampf mit seinen Märchenstunden über Steuern, Bildung, Chancen. In den Koalitionsverhandlungen werden die Versprechen ohnehin zerraspelt. Umso bemerkenswerter, wie der jahrelange Zank um die 'Ehe für alle' plötzlich zu konkreter Politik wird; Ausgang ungewiss, Sieger und Verlierer längst nicht klar. Gewinnt die Kanzlerin mit ihrer Vorliebe für überraschende U-Turns? Oder hat die SPD gemeinsam mit der Opposition eine politische Sprengfalle aufgebaut, die eine notdürftig geeinte Union schlagartig wieder auseinandertreibt? Endlich erlebt das großkoalitionär erlahmte Berlin, das die 'Ehe für alle' 30 Mal auf die Tagesordnung hob, um nichts zu entscheiden, wieder ein Lehrstück in Dynamik, Brisanz und Tücke, in Angriff und Konter. Gut so."
Hannoversche Allgemeine: "Wichtiger als die Eheschließung selbst ist vielen das Recht auf Ehe. Nicht alle Schwulen und Lesben wollen heiraten. Aber alle wollen heiraten dürfen. Die Ehe für alle bedeutet nicht deren Entwertung. Keine heterosexuellen Männer und Frauen büßen Rechte ein, weil Homosexuelle auch welche erhalten. Es ist seltsam, dass die vorgeblichen Verteidiger der Institution Ehe im Wunsch nach deren Öffnung einen Angriff auf die Ehe sehen, während die hohen Scheidungsraten ihnen kaum Sorgen bereiten."
Stuttgarter Nachrichten: "Es ist ein kluger Schachzug, mit der sie zwar die Konservativen in ihrer Partei düpiert, aber CDU und CSU mittelfristig den Machterhalt sichert. Mit ihrem Nein war die Union zusehends isoliert, denn alle anderen Parteien, mit denen eine Koalition nach der Bundestagswahl möglich wäre – also FDP, Grüne und SPD – haben die Ehe für alle als eine Voraussetzung für eine Koalition benannt. Spannend bleibt die Frage, ob eine Abstimmung im Bundestag noch in dieser Legislaturperiode stattfindet, was die SPD nun vehement fordert."
Schwäbische Zeitung: "Verwundert darf man dagegen fragen, weshalb sich die Kanzlerin das Thema kurz vor der Bundestagswahl einverleibt. Der Gedanke liegt nahe, Merkel treibt weniger eine Gewissensentscheidung um, denn eine Entscheidung aus Kalkül. Der SPD hat sie ein wichtiges Wahlkampfthema entrissen, panisch verlangen nun fast alle Parteien eine sofortige Abstimmung über die Gleichstellung, als gebe es für sie noch was zu retten. Nein, Merkel, noch kürzlich vor der 'Kanzlerdämmerung', nutzt das neuerliche Umfragehoch für diesen Schachzug. Einmal mehr, man denke nur an Kernkraft, Mindestlohn, Mietpreisbremse und anderes, hat sie mehrheitsfähige Forderungen der Opposition zu ihrer Sache gemacht."
Freie Presse: "Dabei hat Angela Merkel die Kehrtwende geschickt verpackt: Indem sie die Frage zu einer Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang erklärt, nimmt sie die Rechte und Werte gleichgeschlechtlicher Paare ernst, stößt aber auch diejenigen in der Union nicht vor den Kopf, die sich mit der Gleichstellung nach wie vor schwertun. Und sie hat aus einem potenziellen Streitthema im Wahlkampf schon mal die Luft rausgelassen. So geht Politik, kann man da nur sagen."
Mannheimer Morgen: "Kanzlerin Merkel hat gemerkt, dass mit der bislang blockierenden Haltung der Unionsmehrheit bei der 'Ehe für alle' im Wahlkampf kein Punkt zu machen ist. Also ist sie einen Schritt zur Seite getreten und hat die Angelegenheit zur Gewissensfrage stilisiert. Übersehen hat Merkel, dass sich bei der Union nun diejenigen kräftig die Augen reiben, die gegen die Ehe für alle sind oder zumindest Zweifel daran haben. Diese Parteifreunde hat Merkel im Handstreich desavouiert. Wer Merkel vorwirft, die Union kernlos gemacht zu haben, wird sich drei Monate vor der Wahl erneut bestätigt fühlen."
Rhein-Zeitung: "Angela Merkel hat eine Kehrtwende hingelegt, mal wieder. Jahrelang hatten SPD, Grüne und Linke darauf gedrängt, dass Homosexuelle heiraten dürfen - mit allen Rechten und Pflichten. Für Teile der Unionsparteien war die Öffnung der 'Ehe für alle' bislang tabu. Jetzt hat die CDU-Chefin die Abstimmung zur Gewissensentscheidung erklärt. Die "Ehe für alle" wird kommen, selbst wenn große Teile der Union ihr die Zustimmung im Bundestag verweigern. Angela Merkel beweist dabei einmal mehr ihren machtpolitischen Instinkt. Grüne, SPD und FDP wollten das Thema im Wahlkampf nutzen, um die Union unter Druck zu setzen. Sie wollten es sogar zur Bedingung einer Koalition machen. Merkel hat nun das Thema abgeräumt, ohne sich in der Sache zu positionieren. Ein Meisterwerk einer kalkulierenden Machtpolitikerin."
Flensburger Tageblatt. "Gesellschaftlich ist es höchste Zeit. Die Partnerschaft von Menschen gleichen Geschlechts - auch Politikern - ist ja längst eine Selbstverständlichkeit. Selbst in der Union bröckelt der Widerstand gegen die Ehe für alle. Aus der 'wilden 13' der CDU, die vor fünf Jahren in der Fraktion den Kampf für die Gleichstellung von Homosexuellen aufnahm, sind fast 50 geworden - darunter auch CSU-ler. Und Schleswig-Holsteins CDU-Chef Daniel Günther hat im Wahlkampf sogar offensiv für die Pläne geworben. Geschadet hat's ihm nicht, im Gegenteil: Bekanntlich wird er heute zum Ministerpräsidenten gewählt."
Rhein-Neckar-Zeitung: "Dieses rein taktisch motivierte Vorgehen ist irritierend. Und im Falle Merkels in etwa so glaubwürdig, wie ihre doppelte Wende in der Atompolitik oder die Abschaffung der Wehrpflicht. Das konservative Publikum fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Der liberalere Teil frohlockt ob der revolutionären Reformen. Darüber hinaus ist dieses 'Spiel' für Merkel riskant. Die komplette Restentkernung der Union dient zu offensichtlich dem Stimmenfang und Machtinteressen. Eine innere Überzeugung ist nicht zu erkennen. Deutschland zerbricht ganz sicher nicht an der Ehe für alle. Aber diese Kanzlerschaft könnte doch noch überraschend schnell zu Ende gehen."
Landeszeitung: "Die Kanzlerin bleibt sich treu. Der Nötigung der SPD zur Ehe für alle begegnet sie mit einer Gewissensentscheidung für alle Unions-Abgeordneten. Schulz 'Anschlag auf die Demokratie'-Attacke pariert sie mit einem 'Schwamm drüber'.Merkel führt ihre Partei unbeirrt in die politische Mitte. Da kann auch der CSU-Ramsauer Peter zetern, die Parteiführung solle sich davor hüten, auch noch die letzten konservativen Werte zu zerstören: die Ehe für alle ist nicht mehr und nicht weniger als das gesellschaftspolitische Ankommen in der Gegenwart.Zur Gegenwart gehört auch, dass kurz vor Ende der Legislaturperiode vielleicht ein anderes Thema besser geeignet gewesen wäre, um noch Gesetzeskraft erlangen zu können. Etwa Maßnahmen zum Kampf gegen Altersarmut. Oder zur Verbesserung der Situation von Alleinerziehenden."
Südwest Presse: "Der von Angela Merkel überraschend in Aussicht gestellte Beitritt der Bundesrepublik zum Geltungsbereich der Ehe für alle bringt die schwarz-rote Koalition am Ende doch noch in Turbulenzen. (...)Dass die SPD diese nonchalante Geste der CDU-Chefin als pure Provokation verstehen musste, ist nachzuvollziehen. Merkel hatte die Vorstöße der SPD für die Homo-Ehe in den vergangenen Jahren mehrfach abgewiesen.? Ihre aktuelle Kehrtwende ging daher über eine Grenze hinaus, die für den Partner noch erträglich war. Nicht nur Genossen stellen sich ja die Frage, worauf bei der Kanzlerin eigentlich noch Verlass ist - außer auf ihr Machtkalkül."
Volksstimme: "Da machen Grüne, SPD und FDP die Einführung der 'Ehe für alle' zur roten Linie bei Koalitionsverhandlungen - und über Nacht ist das Thema mit zwei, drei Merkel-Sätzen vom Tisch. Sollen die anderen ruhig ihr Wahlkampfgetöse abziehen, die Bundeskanzlerin lässt das kalt. Bloß nicht vorneweg marschieren, sondern dem eigenen Stil treu bleiben - das hat bisher immer funktioniert. Eigeninitiative bringt - siehe Energiewende oder Flüchtlingseinlass - nur Ärger. Bei der Kampagne 2013 hieß das: Sie kennen mich. Jawohl, und mehr ist auch in diesem Sommer nicht zu erwarten. Anschauen, analysieren, ausnutzen - nach diesem Dreiklang wird Deutschland seit 2005 regiert. Wenn sich andere Parteien dafür starkmachen, jeden familiär nach seiner Fasson leben zu lassen, und die Umfrage-Mehrheit das genauso sieht, schleift die CDU-Chefin gnadenlos christlich-konservative Bastionen. Die Grundsätze werden auf dem Altar der Macht geopfert. Bis keiner mehr übrig ist."
Weser-Kurier: "Und was hätte Merkel von diesem Zugeständnis? Sie hätte ein heikles Thema kurzerhand aus dem Wahlkampf entsorgt, schließlich haben Grüne, SPD und FDP die Durchsetzung der Ehe für alle sehr hoch gehängt. Und mit einer Abstimmung ohne Fraktionszwang, ohnehin sinnvoll bei diesem Thema, könnte die Union ihre Niederlage sogar noch gesichtswahrend schönreden. Merkels Pragmatismus scheint sich also wieder einmal durchzusetzen – die Kanzlerin verkämpft sich eben ungern in aussichtslosen Debatten. Die Zeit ist reif für die Ehe für alle – die CDU-Chefin hat das wieder einmal vor ihrer Partei bemerkt."
Westfälische Nachrichten: "Es ist weniger die Forderung nach kurzfristiger Abstimmung im Parlament, die CDU und CSU in die politische Bredouille bringt: Alle für eine Regierungsbildung grundsätzlich in Frage kommenden Parteien, also SPD, Grüne und FDP, haben die Ehe für alle zur grundsätzlichen Voraussetzung für ein Regierungsbündnis erklärt - und die Union damit in Zugzwang gebracht. Angela Merkel reagierte prompt und opfert nun, indem sie die Frage als Gewissensentscheidung der Abgeordneten definiert, eine weitere wertkonservative Position ihrer Partei dem machtstrategischen Zwang."
Nürnberger Nachrichten: "Die Entwicklung um die Ehe für alle sollte der SPD und den Oppositionsparteien Mut machen. Jetzt, vor der Wahl, ist die Zeit über die großen Konzepte zu sprechen: über die Verteilung des Reichtums, über Altersarmut, über den Ausstieg aus der Kohle. Über die Bedeutung der Europäischen Union, über die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Russland. Kanzlerin Angela Merkel hält sich in solchen Fragen gerne und lange zurück. Der Wähler aber hat ein Recht auf Wissen. Die politische Konkurrenz muss deshalb Mittel und Wege finden, damit die Regierungschefin Farbe bekennt."
Leipziger Volkszeitung: "Wer die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen etwa unter Verweis auf ihren zahlenmäßigen Anteil an der Bevölkerung zur Nebensache erklärt, der verkennt, dass der Umgang mit Minderheiten den Wesenskern einer liberalen, demokratischen Gesellschaft berührt. Artikel 3 im Grundgesetz lautet nicht: 'Die Mehrheit ist vor dem Gesetz gleich.' Er lautet: 'Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.' Es ist daher ein Gebot der Selbstachtung, dass der Bundestag jetzt den langen Streit um die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben mit der Öffnung der Ehe beilegt."
Straubinger Tagblatt: "Mögen die Konservativen in der CDU auch maulen und die AfD jubeln, das leidige Thema ist vom Tisch, SPD und Grüne haben ein Wahlkampfthema weniger und für zukünftige Koalitionen hat sie wieder alle Optionen von Schwarz-Gelb über Jamaika bis zur GroKo. Punktsieg für die Taktikerin der Macht. Doch ob es ihr auf Dauer nicht schaden könnte, das Kernklientel der Union wieder einmal vor den Kopf zu stoßen?"
Der Standard (Österreich): "Also hat Merkel das Thema mit einer Eleganz vom Tisch gewischt, die nicht unbeeindruckend ist: indem sie die Angelegenheit einfach zur Gewissensfrage erklärte. Damit sagt sie: Ich selbst will es eigentlich nicht, aber ich kann es auch nicht (mehr) verhindern. Doch irgendwie hat sie nicht mit der neuen Entschlossenheit von SPD-Chef Martin Schulz gerechnet. Der fackelte nicht lange, nahm sie beim Wort und will die Abstimmung am letzten Tag dieser Legislaturperiode erzwingen. Diese Überrumpelung ist nicht die feine Art, aber Schulz nutzt seine Chance und hilft letztendlich einen Zustand zu beenden, der ohnehin nicht mehr tragbar ist: dass für Homosexuelle immer noch nicht gleiche Rechte gelten."
De Telegraaf (Niederlande): "Angela Merkel überrascht erneut Freund und Feind, indem sie die Tür für die Homoehe öffnet. Durch die Entbindung ihrer christlichen und konservativen Fraktion vom Zwang, die Ehe von homosexuellen und lesbischen Paaren abzuweisen, landet die Kanzlerin drei Monate vor der Bundestagswahl einen Coup. Bereits vor Tagen hatte ihr wichtigster Herausforderer, Martin Schulz von der linken SPD, eine Lanze für die Ehe für alle gebrochen. Er machte es, ähnlich wie andere linke Parteien, sogar zur Schlüsselfrage. Indem sie nun mit einer moderneren gesellschaftlichen Sichtweise auftritt, nimmt Merkel ihrem Gegenspieler den Wind aus den Segeln."
Corriere della Sera (Italien): "Es wird nicht leicht sein, einen gemeinsamen Gesetzestext zu finden, auch weil es in Merkels Partei nicht an Kritikern der gleichgeschlechtlichen Ehe mangelt. Fakt ist: Die Kanzlerin hat alle überrascht. Sie ist der Meinung, dass die Zeit reif ist. Im Land und im Parlament gibt es eine Mehrheit, die für ein Gesetz dieser Art ist. Am 24. September sind Wahlen und Merkels Herausforderer von der SPD, Martin Schulz, hat die gleichgeschlechtliche Ehe in sein Wahlkampfprogramm genommen. Darüber hinaus sind beide möglichen Koalitionspartner Merkels, die FDP und die Grünen, für ein solches Gesetz. Mit ihrer Kehrtwende nimmt sie ihnen allen ein Argument im Wahlkampf."

Fotos So lief der große Zapfenstreich für Angela Merkel

Mit 395 von 707 Stimmen Hier wird Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt
