Interview mit Historiker Christoph Nonn Die Entzauberung des "Eisernen Kanzlers"

Düsseldorf · Otto von Bismarck, der erste Reichskanzler, wurde den Deutschen zum Mythos. Aus Anlass seines Geburtstages vor 200 Jahren schrieb der Historiker Christoph Nonn von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine neue, kritische Biografie über den Staatsmann, nach dem Straßen, Plätze und Türme benannt sind. Ein Gespräch mit dem Bismarck-Forscher.

 Otto von Bismarck gehörte zu den schillerndsten Persönlichkeiten der deutschen Geschichte.

Otto von Bismarck gehörte zu den schillerndsten Persönlichkeiten der deutschen Geschichte.

Foto: dpa

Steht Bismarck, der "Eiserne Kanzler", zu Recht auf dem hohen Sockel?

Nonn Auf den Sockel gestellt hat ihn das weitverbreitete Bedürfnis nach einer nationalen Identifikationsfigur. Bismarck hat freilich mit seinen "Gedanken und Erinnerungen" auch selbst dazu beigetragen.

Hat er sich historisch größer gemacht, als er gewesen ist?

Nonn Bismarck hatte einen langjährigen Mitarbeiter im Reichskanzleramt, Lothar Bucher, der ihm 1892 auch bei den Memoiren zur Hand gegangen ist. Bucher hat damals notiert, dass sein ehemaliger Chef "selbst bei klaren ausgemachten Tatsachen und Vorgängen" dazu neige, "absichtlich zu entstellen".

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Bismarck keine historische Größe zuschreiben mögen?

Nonn Wenn von Bismarcks "Größe" die Rede ist, bezieht sich das meist auf die Phase der Reichsgründung, auf den Zeitraum 1862 bis 1871. Es wird oft gesagt, die Geschichte wäre wesentlich anders verlaufen, wenn Wilhelm I. 1862 nicht ihn zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt hätte. Das sehe ich anders.

Und wie sehen Sie es?

Nonn Bismarck hatte mit der militärischen Seite der Feldzüge von 1866 und 1870/71, die Voraussetzung der Reichsgründung wurden, herzlich wenig zu tun. Er war ja Diplomat, nicht Soldat. Seine Aufgabe war die politische Vorbereitung dieser Feldzüge. Im "deutschen" Krieg von 1866 sollte er eigentlich möglichst viele der deutschen Mittelstaaten auf Preußens Seite ziehen. Das ist ihm aber in keinem einzigen Fall gelungen: Hannover, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt kämpften alle auf Seiten des Gegners Österreich. Da hat er sich also nicht eben mit Ruhm bekleckert. Nach 1871 hat er dann behauptet, die deutsche Einheit sei gegen fast ganz Europa erkämpft worden. Das stimmt aber nicht: In den meisten europäischen Staaten stand man der Gründung eines deutschen Nationalstaats neutral, oft sogar wohlwollend gegenüber. Von daher war die Einigung gar kein solches Meisterwerk.

Noch einmal: Bismarck war für die deutsche Einigung von 1871 nicht zwingend notwendig?

Nonn Wahrscheinlich wäre sie auf die eine oder andere Weise auch ohne ihn zustande gekommen. Bismarck war nur ein Akteur, wenn auch sicher nicht der Unwichtigste, beim Zustandekommen des Kaiserreichs. Die Entstehung des deutschen Nationalstaates war ein längerer Prozess, an dem alle möglichen Menschen ihren Anteil hatten. Mit der äußeren Einigung 1871 war dieser Prozess auch lange noch nicht abgeschlossen: Es folgte dann die "innere Reichsgründung", die Vereinheitlichung von Währungen, Rechtssystemen und so weiter. Daran hatte Bismarck kaum Interesse. Ihm ging es hauptsächlich darum, sein Preußen größer zu machen sowie die Monarchie und die Vorherrschaft des Adels zu stärken.

Der Bismarck-Mythos bis heute ist für Sie unverständlich?

Nonn Der Mythos hat wenig mit dem Menschen zu tun. Das gilt übrigens nicht nur für den traditionellen Mythos vom "Reichsgründer". Es gilt genauso auch für den neuen Mythos, nach dem Bismarck der böse große Wolf gewesen ist, der Deutschland im Alleingang auf die schiefe Ebene gesetzt habe, auf der es dann in den Nationalsozialismus gerutscht sei.

Brauchen wir Mythen und Figuren wie Bismarck?

Nonn Die Lebendigkeit der Mythen zeigt, dass viele Menschen immer noch ein Bedürfnis nach nationalen Identifikationsfiguren haben, ob nun im positiven oder negativen Sinn. Wir leben nach wie vor im Zeitalter der Nationalstaaten. Ob das gut ist, ist eine andere Frage.

Stimmt Kanzler Konrad Adenauers Befund, wonach Bismarck ein großer Außenpolitiker und ein schlechter Innenpolitiker gewesen sei?

Nonn Für den katholischen Rheinländer Adenauer war Bismarck ein jämmerlicher Innenpolitiker, weil er den Kulturkampf gegen die katholische Kirche geführt hat. Hätte man den Sozialdemokraten Willy Brandt gefragt, hätte er Bismarck dessen Anti-Sozialisten-Gesetze als Untat vorgeworfen. Aus weniger parteipolitisch gefärbter Brille könnte man ihm heute am ehesten seine Ablehnung von Parlamentarismus und Demokratie vorwerfen.

Seine Sozialgesetzgebung lassen Sie als Leistung gelten?

Nonn Man muss da unterscheiden zwischen langfristigen, nicht unbedingt beabsichtigen Folgen politischer Initiativen und ihren Intentionen in der Zeit. Für Bismarck war die Sozialgesetzgebung ein taktisches Manöver, um die Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie zu lösen und dem konservativen Staat zu verpflichten.

Hatte Bismarck einen Sinn für Europa, gar für so etwas wie eine europäische Zusammenarbeit?

Nonn Er war sicherlich kein Vorreiter der europäischen Einigung. Europa war für ihn nichts weiter als ein geographischer Begriff. Alles andere seien "Redensarten", hat er einmal gesagt. Allerdings dachte er wie viele Diplomaten seiner Zeit oft in Kategorien des Gleichgewichts der europäischen Mächte.

Sehen sie historische Parallelen zwischen Bismarcks Regierungsjahren und der heutigen Wirtschaftspolitik im Euro-Raum?

Nonn Auch zu Bismarcks Zeit haben sich internationale und gerade wirtschaftliche Verbindungen intensiviert. Das späte 19. Jahrhundert war die Zeit der ersten Globalisierung; wir leben heute in der zweiten. Damals wie heute führte das zu neuen Perspektiven, aber auch zu Problemen. Das Vorangaloppieren wirtschaftlicher Verflechtungen miteinander belastete in beiden Fällen die politischen Beziehungen zwischen den Nationalstaaten.

Sowohl das Deutsche Reich wie auch die neue Bundesrepublik Deutschland spielen eine dominante Rolle in Europa.

Nonn Die Situation nach 1871 ist in der Tat derjenigen nach 1990 sehr ähnlich. Der wirtschaftliche Koloss Deutschland ist, ob er das nun will oder nicht, auch ein politischer Koloss geworden. Die Frage war damals wie heute: Wie geht er mit seiner neuen Macht um? Beide Male war man da in politischer Hinsicht sehr vorsichtig, in wirtschaftlicher weniger. Schon Bismarck hat eine Wirtschaftspolitik betrieben, die das europäische Gleichgewicht immens gefährdet hat.

Sie bestreiten Bismarck auch, dass er und nur er das berühmte Spiel mit "den fünf Bällen" beherrscht hat?

Nonn Über Bismarcks Außenpolitik nach 1871 kann man lange streiten. In letzter Zeit setzt sich allerdings in der Geschichtswissenschaft mehr und mehr eine Interpretation durch, nach der sie nicht einzigartig genial war. In der "Krieg-in-Sicht-Krise" 1875 führte Bismarcks Politik das Deutsche Reich zeitweilig fast in eine völlige Isolation. Seit 1879 hat er im Interesse vor allem der Landwirtschaft auf Erhöhung der deutschen Zölle hingewirkt und dadurch besonders die Beziehungen zu Russland massiv verschlechtert.

Bismarck und Putin. Der eine sagte in seinem berühmten Satz von 1862, die großen Fragen der Zeit ließen sich nicht durch Majoritätsbeschlüsse, sondern nur durch Blut und Eisen entscheiden, der andere handelte 2014 entsprechend. Böse Renaissance, oder?

Nonn Bismarck glaubte an die Machtpolitik, ihm ging Macht vor Recht. Da ist Putin Bismarck ähnlich. Bismarcks kaltschnäuzigen Politikstil findet man nach wie vor.

Wie war Bismarck als Mensch?

Nonn Schillernd und vielseitig: Ein Grobian und Vielfraß, aber auch ein feinsinniger Literat und Sprachkünstler. Er war zeitlebens ein jähzorniger Choleriker, seiner Frau jedoch fast ein halbes Jahrhundert lang in liebevoller Ehe verbunden. Seine politischen Feinde verfolgte er mit abgrundtiefem Hass bis ins Grab. Mit seinem König, Wilhelm I., ist er dagegen in 26 Jahren nicht nur ein politisches Team, sondern auch gut Freund geworden. Alles andere als über einen Kamm zu scheren also.

Reinhold Michels führte das Interview.

(RP)
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