Görlitz in Sachsen AfD könnte erstmals ein Oberbürgermeisteramt erobern

Görlitz · Am Tag der Europawahl wählt Görlitz auch sein Stadtoberhaupt. Die Abstimmung hat Signalwirkung für ganz Deutschland.

 Blick von der Görlitzer Peterskirche auf die Innenstadt mit dem Rathaus.

Blick von der Görlitzer Peterskirche auf die Innenstadt mit dem Rathaus.

Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Kahnert

Sie ist nicht nur Sachsens sechstgrößte Stadt. Sie lebt auch wie kaum eine andere mit offenen Grenzen, betont das Zusammenleben der Menschen in Görlitz auf dieser und Zgorzelec auf der anderen Seite der schmalen Neiße. Europa pur. Das Schlendern von Deutschland nach Polen dauert nur Sekunden. Wenn hier auf der Grenze die Parole „Grenzen dicht“ mehrheitsfähig wird, dann ist das mehr als ein momentanes Bauchgefühl. Dann sagen die Menschen, was aus Europa werden soll.

Bei der Bundestagswahl haben sie in der Region bereits schockiert, als sie im Herbst 2017 das Direktmandat nicht dem prominenten Michael Kretschmer von der CDU gaben, sondern sich die meisten hinter den politischen Newcomer Tino Chrupalla von der AfD stellten. Deswegen rechnet sich die AfD nun aus, in Görlitz bei der Oberbürgermeisterwahl auch den ersten Oberbürgermeister Deutschlands stellen zu können. Dafür bietet sie für die Schlusskundgebung in Görlitz auch ihren Parteichef und Europaspitzenkandidaten Jörg Meuthen auf. Die anderen werfen ebenfalls ihre erste Riege an die Görlitzer Wahlkampffront, die CDU ihre Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die Grünen ihren Chef Robert Habeck, die Linken ihren Ex-Fraktionschef Gregor Gysi.

Auch die Auswahl der Kandidaten unterstreicht, dass diese OB-Wahlen weit über Görlitz hinaus weisen. CDU, Grüne und AfD schicken Landtagsabgeordnete ins Rennen. Sie wissen: Immer wenn ein Amtsinhaber abtritt, so wie in Görlitz, werden die Karten neu gemischt.

„Deutsches Blatt“, ruft am Morgen im Stadtteil Hagenwerder ein AfD-Mitarbeiter einem Passanten zu. Am Infostand liegen auch Skatspiele als Wahlkampfgeschenke. OB-Kandidat Sebastian Wippel hat den ausklappbaren Werbeanhänger, das „Wippelmobil“, selbst auf die Parkbucht vor der Sparkasse bugsiert. Darum drehen sich denn auch die ersten Gespräche mit den Bürgern. Warum denn nun auch noch diese Filiale geschlossen werden soll. Wippel, ein großer, schlanker Schwiegermuttertyp mit kurzen Haaren, bedauert, aber verspricht nichts. Keine Wahlversprechen, die er nicht halten kann.

  Sebastian Wippel  von der AfD kocht für die Besucher einer Mehrgenerationen-Begegnungsstätte.

Sebastian Wippel von der AfD kocht für die Besucher einer Mehrgenerationen-Begegnungsstätte.

Foto: Gregor Mayntz

Der 37-jährige Polizeibeamte ist Görlitzer, war zwar ein Jahrzehnt in Niedersachsen eingesetzt, hat aber den Kontakt nie abreißen lassen. In Podiumsdiskussionen könnte er bei vielen seiner Antworten auch als FDP-Kandidat durchgehen. Kein Wunder: Er war selbst Liberaler und auf Landesebene aktiv. „Wäre der FDP-Mitgliederentscheid zur Eurorettung damals ernsthaft durchgezogen und nicht ausgebremst worden, hätte es die AfD nie gegeben“, stellt er leicht verbittert fest – allerdings mit dem Hinweis: „Es ist anders gekommen, und das ist gut so.“

Gut für ihn, denn er ist nun seit 2014 Innenpolitikexperte seiner Fraktion im Dresdner Landtag und zugleich als Kommunalpolitiker mit allen Themen bestens vertraut, die im Wahlkampf zur Sprache kommen könnten. Was ist mit dem Helenenbad? Warum kostet das Landratsamt so viel? Was hält er von den Plänen zur Stadthalle? Wippel weiß auf alles eine Antwort. Er hat für den Wahlkampf um das OB-Amt die Strategie entwickelt, weg von dem Klischee des Schlechtredens, hin zu positiven Zukunftsvisionen. So kommt er dann mit dem „schlagkräftigen Ordnungsamt“, mit herausragenden Projekten für den Tourismus, mit einem bezahlbaren Nahverkehr.

Wippel hat den Stand kaum aufgebaut, da grüßt auch schon der Fahrer eines vorbeifahrenden Linienbusses sehr freundlich. Nach einer Umfrage der „Sächsischen Zeitung“ sagen 52 Prozent, ein AfD-Oberbürgermeister würde dem Ansehen der Stadt schaden. Aber 48 Prozent sagen Nein oder sind unentschieden. Die Stadt ist nach dem AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl zweigeteilt. Bürger berichten, dass die Spaltung mitten durch Familien gehe, dass Nachbarschaften versuchten, das Thema zu meiden. Und so erfahren es die Wahlkämpfer. Auch Oktavian Ursu. Vor dem Einkaufszentrum huschen die Leute entweder schnell vorbei oder sie gehen freudestrahlend auf ihn zu.

Der etwas gedrungen wirkende gebürtige Rumäne mit den hellwachen Augen gehörte zu den Delegierten, die sich beim Essener CDU-Parteitag hinter Jens Spahn und gegen Angela Merkel stellten und gegen den Doppelpass votierten. Aus Überzeugung. Auch seinen rumänischen Pass hat er abgegeben, als er seinen deutschen bekam. Nach Jahrzehnten in Deutschland fiel ihm die Entscheidung leicht. In Düsseldorf hat er Musik studiert, aber in Görlitz ist er zu Hause. Der frühere Solotrompeter passt wie kaum ein anderer zu der Kulturstadt Görlitz. Als der Regen überhandnimmt, verschwindet er kurz in der Kirche, umarmt Reinhard Seeliger, mit dem er in zahlreichen Benefizkonzerten über eine Million für die Sanierung der berühmten Sonnenorgel eingespielt hat und, wendet die Notenblätter, während Seeliger seine Lieblings-Toccata spielt.

 Oktavian Ursu von der CDU verteilt neben Infomaterial Spülmittel, weil es darum gehe, Görlitz sauber zu machen.

Oktavian Ursu von der CDU verteilt neben Infomaterial Spülmittel, weil es darum gehe, Görlitz sauber zu machen.

Foto: Gregor Mayntz

Ursu wird in einer aktuellen Umfrage favorisiert. Doch auf den Straßen traut dem kaum einer. Das Gefühl für die Stimmung unter den Wählern spricht bei den Menschen in Görlitz eher für ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem AfD-Mann und der Grünen-Frau. Franziska Schubert, 37, markant-rote Haare, Typ unermüdliche Powerfrau, ist sozusagen der personifizierte Anti-Wippel. Deshalb trat sie auch erst an, als sie nicht nur die eigene Partei hinter sich wusste. Die sächsischen Grünen halten traditionell Abstand nach unten zu den guten Bundeswerten. Nun stehen auch zwei örtliche Bürgerbündnisse und die SPD hinter ihr.

Wenn sie die „Grenzen dicht“-Parolen der AfD sieht, wird die Geologin leidenschaftlich. Der Nationalstaat sei „ein Konstrukt, das sich jemand ausgedacht hat“. Grenzen und Nationalismus hätten den Europäern so viel Leid gebracht, das wolle sie nicht erleben. Ursu kenne sie vom Gebetsfrühstück im Landtag. Sie macht sich keine Sorgen um ihre eigene Zukunft, wenn es nach monatelangem Wahlkampf am Ende nicht reicht. „Ich bin Christin und weiß deshalb, dass ich nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand“, bekennt Schubert. Während sich die anderen Kandidaten zur Frage bedeckt halten, was nach der Wahl am nächsten Sonntag passiert, wenn es zur nötigen absoluten Mehrheit nicht reicht, legt sich Schubert fest. Als sie am Abend auf dem Sofa im Jugendzentrum „Wartburg“ danach gefragt wird, zögert sie und spricht dann mit lauter Stimme: „Ich ziehe zurück, wenn ich auf dem dritten Platz lande.“ Es gehe schließlich nicht um die Befriedigung persönlicher Eitelkeiten, es gehe „um diese Stadt“, sagt sie. Dafür gibt es großen Applaus.

So weit ist Jana Lübeck noch nicht. Die 35-jährige Kulturmanagerin wollte ursprünglich vor allem für die Linken in den Stadtrat. Nach dem AfD-Erfolg ging sie jedoch aufs Ganze und markiert bei der OB-Wahl das Eintreten für ein soziales Görlitz, das allen gehöre, auch den Migranten. Sie findet die jüngsten Haushaltsbeschlüsse des von CDU und Freien Wählern dominierten Stadtrates zynisch. „Kein Geld“ für eine Drogenprävention in der von Crystal Meth aus den nahen tschechischen Laboren besonders betroffenen Stadt. „Kein Geld“ für Fahrradständer. Aber mal eben 100.000 Euro für eine neue Video-Überwachung.

Die Schlussphase seines Wahlkampfes hat Ursu ganz unter das Thema Sicherheit gestellt. Auf Großflächenplakaten zeigt er sich mit riesiger Überwachungskamera. Und besonders freut er sich über diesen Termin an der Altstadtbrücke nach Polen, zu dem Dutzende kontrollierende Polizeibeamte, der Polizeipräsident und der Innenstaatssekretär angereist sind. Eigentlich sollten dabei die ersten beiden hochleistungsfähigen, 24 Stunden laufenden stationären Kameras präsentiert werden, mit denen der Freistaat künftig gestochen scharfe Bilder von Straftätern für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen liefern will. Doch die Kameras sind so begehrt, dass Görlitz seine erst Ende Juli bekommt. Den Pressetermin gibt es trotzdem. Ganz offensichtlich will sich die sächsische CDU bei den OB-Wahlen als letztem großen Test vor den Landtagswahlen Anfang September an Millionen für mehr Sicherheit und mehr Polizeipräsenz nicht mehr übertrumpfen lassen. Ständig patrouillieren Streifen durch die Stadt, werden Passanten aus Polen nach den Papieren gefragt.

Das passt so durchsichtig zu dem Versuch, der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass sich nicht nur drei der vier OB-Kandidaten fragen, ob das denn so platt bei den Wählern verfängt. Und der AfD-Herausforderer kontert: Das sei doch nichts, was die Stadt beschließen könne. Aber ein Staat müsse prinzipiell das Recht haben zu kontrollieren, wer reinkomme, wer rausgehe und was er dabei habe. Dazu müssten auch die zurückgebauten Grenzkontrollstellen wieder aufgebaut werden.  Kaum stehen die Poller für die späteren Kameras auf CDU-Initiative an den Grenzen, setzt die AfD schon einen drauf.

Wippel ist inzwischen in den nächsten Stadtteil weiter gefahren, bekocht zusammen mit einem Parteifreund die Besucher einer Mehrgenerationen-Begegnungsstätte. Es gibt Linsensuppe, Salat und Hähnchenbrust. Dazu AfD-Programmatik. Hier will man sie hören, auch beklemmende Fragen, wie passive Sterbehilfe für Todkranke, besprechen. Es sind nicht viele Vereine und Organisationen, die die AfD-Anfragen nach Vorstellungsrunden positiv beantworten. Auch hier zeigt sich die Stadt geteilt.

Drei von vier Kandidaten brauchen einen Plan B, wenn es nächsten Sonntag beim ersten Durchgang und Mitte Juni beim zweiten mit dem gut dotierten OB-Posten nicht klappt. Die Linke wird ohnehin eher als Zählkandidatin gehandelt. Der AfD-Mann und die Grünen-Frau stehen schon auf aussichtsreichen Plätzen für die Landtagswahl, können als Abgeordnete in Dresden weitermachen. Ursu nicht. „No risk, no fun“, ohne Risiko kein Vergnügen, lautet der Satz, mit dem er sich selbst anfeuert. Er wird entweder OB. Oder nichts. Muss dann als Musiker neu anfangen. Seinen Optimismus holt er sich auch aus seinen Erinnerungen. Er war in Bukarest, als 1977 beim Erdbeben die Häuser einstürzten, er war als Student auf den Straßen, als 1989 bei der blutigen Revolution die Panzer rollten.

Verglichen damit ist die OB-Wahl in Görlitz eine minder gefährliche Angelegenheit. Aber die Bundesprominenz beweist, wie viel national auf dem Spiel steht. Im Stundentakt schrubben die Kandidaten Termine. Schubert verteilt Flyer auch auf Polnisch. Bei den in Görlitz lebenden Polen sind 3000 Stimmen zu holen. Deshalb haben die Parteien auch Polen auf ihren Kandidatenlisten zur parallelen Stadtratswahl.

Renata Urdas (49) ist eine von ihnen. Auf der CDU-Liste. Noch hat sie kein Parteibuch, aber viel positive Resonanz von den Landsleuten. Als Immobilienfachfrau weiß sie, wie begehrt Görlitz inzwischen wieder ist. Die 70.000-Einwohner-Stadt war nach der Wende auf 50.000 geschrumpft, nun bewegt sie sich wieder auf 60.000 zu. Die Wohnungskäufer kommen aus Westdeutschland, aus Kanada, Russland und Kuwait. Sie alle rechnen damit, dass Görlitz weiter im Kommen ist.

Aber unter welcher Führung? Es wird eine Premiere geben. So oder so oder so. Entweder der erste AfD-OB. Oder der erste CDU-Migrant als OB. Oder die erste Grünen-OB. Görlitz wird auf jeden Fall deutsche Geschichte schreiben. Und wie im Brennglas zeigen, welches Deutschland und welches Europa die Menschen wollen.

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