75 Jahre Nürnberger Prozesse Hoffnung auf weltweite Gerechtigkeit

Analyse | Düsseldorf · Seit den Urteilen gegen die Nazi-Täter können sich Massenmörder und Kriegsverbrecher nicht mehr hinter staatlicher Immunität verbergen. Das ist das Vermächtnis der Nürnberger Prozesse, die vor 75 Jahren begannen.

 Innenansicht des Gerichtssaals 600 im Landgericht Nürnberg-Fürth. Hier fanden die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vor 75 Jahren statt.

Innenansicht des Gerichtssaals 600 im Landgericht Nürnberg-Fürth. Hier fanden die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vor 75 Jahren statt.

Foto: dpa/Daniel Karmann

Die Zeugen sitzen auf Klappstühlen: vier alliierte Generäle, Bayerns Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, acht Journalisten. In der Gefängnisturnhalle stehen drei schwarze Galgen. Als Erster wird Joachim von Ribbentrop hereingeführt. Hitlers Ex-Außenminister steigt die 13 Stufen zum rechten Galgen hoch. Ihn erwarten ein Geistlicher, ein Stenograf sowie Master-Sergeant John C. Woods, der Henker. Der Stenograf notiert die letzten Worte des Kriegsverbrechers: „Ich wünsche der Welt Frieden.“ Um 1.12 Uhr öffnet Woods die Falltür.

Die Zeugen haben Zigarettenpause. Neun weitere Nazi-Größen folgen, darunter Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamts, Hans Frank, Hitlers Statthalter im besetzten Polen, ferner die Generäle Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Julius Streicher, Herausgeber des Hetzblatts „Der Stürmer“, muss regelrecht zum Galgen gezerrt werden. Um 2.45 Uhr am 16. Oktober 1946 sind die Urteile des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg vollstreckt.

Am 20. November 1945 – vor genau 75 Jahren – hatte der Prozess gegen die verbliebene Nazi-Führung im Gerichtssaal des Nürnberger Justizpalasts mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen. Mit dem Prozess, der in ein Hauptverfahren und mehrere Nebenverfahren unterteilt war, wurde Rechtsgeschichte geschrieben. Zum ersten Mal wurde klar von einem internationalen Gericht, freilich eingesetzt von den vier Siegermächten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, die Theorie der Immunität von Hoheits- und Regierungsakten verworfen. Danach sollte niemand mehr Straffreiheit erlangen, wenn „der Staat Handlungen gutheißt, die sich außerhalb der Schranken des Völkerrechts bewegen“, wie es in der Begründung des Gerichtshofs hieß. Das war heikel. Denn eine eindeutige Definition, was Angriffskrieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit heißt, gab es nicht – zumindest nicht vor den Taten der Nazis.

„Es bleiben Zweifel wegen möglicher Rückwirkung, die in einem Rechtsstaat unstatthaft ist, in dem keine Strafe ohne bestehende gesetzliche Grundlage ausgesprochen werden darf“, räumt der jüdische Publizist Rafael Seligmann ein. Doch angesichts der Ungeheuerlichkeit und Einmaligkeit der Verbrechen der damaligen deutschen Führung musste völkerrechtlich Neuland beschritten werden. „Wenn wir Menschlichkeit als erstrangigen internationalen Wert ansehen, darf systematischer Massenmord, wie von den Nazis verübt, nicht ungesühnt bleiben“, postuliert Seligmann und gibt damit die inzwischen gängige internationale Bewertung der Nürnberger Prozesse wieder.

Freilich gab es auch eine Vielzahl von internationalen Verträgen, die die Anklage des Nürnberger Gerichtshofs stützten. „Es ging um Verbrechen gegen die Menschheit, wie sie völkerrechtlich zum ersten Mal 1915 festgelegt und 1945 in der Londoner Charta präzisiert wurden, die einen Tag vor dem Abwurf der US-Atombombe auf Hiroshima signiert wurde“, erläutert Seligmann. Zudem brandmarkte der Kellogg-Briand-Pakt von 1928, der seit 1939 auch in Deutschland in Kraft war, den Angriffskrieg als rechtswidrig.

Die vier Anklagepunkte, die auf Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs, auf Kriegsverbrechen, auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verschwörung zur Begehung dieser Verbrechen lauteten, und die anschließenden Urteile wurden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 11. Dezember 1946 als geltendes Völkerrecht anerkannt.

Die Bestimmungen hielten spätere Gewaltherrscher und unter staatlichem Schutz stehende Massenmörder nicht ab, weitere Genozide zu begehen. Die beiden schlimmsten Beispiele sind die millionenfachen Morde in Kambodscha durch die Roten Khmer nach deren Machtübernahme 1976 und der Völkermord 1994 in Ruanda an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi durch Hutu-Banden, die in offiziellem Auftrag handelten. So konsequent geahndet wie in Nürnberg wurden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht. Es gab nationale Urteile gegen die verantwortlichen Roten-Khmer-Mörder in Kambodscha, einige ruandische Täter standen vor einem Uno-Gericht. „Systematisch aufgearbeitet wurden beide Genozide nicht“, resümiert Seligmann.

Hat die Menschheit aus den Nazi-Verbrechen also nichts gelernt? So einfach ist es nicht. „Die rechtlichen Voraussetzungen für die Ahndung von Massenmorden und Genoziden bei kriegerischen Konflikten sind gegeben. Hier haben die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bahnbrechende Vorleistungen erbracht“, sagt der Mainzer Gegenwartshistoriker Andreas Rödder. Und auch der Publizist Seligmann findet, dass die internationalen Regeln seit Nürnberg für „Mitläufer und Befehlsempfänger skrupelloser Gewaltherrscher“ eine Abschreckung darstellten.

Dafür steht der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der seit 2002 Urteile spricht. Auch das Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawien klagte mit Slobodan Milosevic zum ersten Mal einen amtierenden Staatspräsidenten an, der allerdings vor Prozessende verstarb. Dafür verurteilte der Gerichtshof die serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadzic und Ratko Mladic, ebenso wie kroatische Täter.

Es gibt viel Kritik an den internationalen Gerichtshöfen, weil Massenmörder wie Syriens Machthaber Baschar al-Assad, die unter dem Schutz von Supermächten stehen, nicht belangt werden. Auch völkerrechtswidrige Besetzungen wie etwa die der Halbinsel Krim durch Russland oder die Verfolgung der Uiguren durch China bleiben straffrei. Doch völlig wirkungslos sind die Verfahren nicht. Seligmann: „Die willigen Helfer müssen immerhin fürchten, vor ein internationales Gericht gestellt zu werden. Hier waren die Nürnberger Prozesse beispielgebend.“

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