Nancy Faeser will alles Ministerin auf Abruf
Meinung | Berlin · Nancy Faeser will die erste Ministerpräsidentin von Hessen werden. Bis zur Wahl will sie aber zugleich Bundesinnenministerin bleiben. Das ist eigentlich der politische Normalfall. CDU und Grüne kritisieren das dennoch. Zu Recht?
Nun ist also klar, was eigentlich niemand anders erwartet hat: Nancy Faeser will die erste Ministerpräsidentin von Hessen werden. Die SPD-Landeschefin tritt auch als Spitzenkandidatin an, gewählt wird am 8. Oktober. Das ist noch eine Weile hin, der Wahlkampf hat aber bereits begonnen und das erste Thema ist gesetzt: Faeser will zugleich Bundesinnenministerin bis zur Wahl bleiben. Und falls die Hessen sich für eine andere Person an der Regierungsspitze entscheiden, will sie das Amt in Berlin nicht aufgeben.
Damit beschreitet sie einen Weg, der zunächst dem politischen Normalfall entspricht: Bewerber für andere Ämter müssen das aktuelle nicht automatisch aufgeben. Kein Ministerpräsident tut das beim Versuch einer Wiederwahl. Kein Landesminister tut das beim Versuch, Ministerpräsident zu werden. Und kein Ministerpräsident tut das beim Versuch, Bundeskanzler zu werden. Ein herausragendes politisches Amt dient im Wahlkampf immer auch als Plattform, um sich zu profilieren, um Bekanntheitswerte aufzubessern und die politische Agenda zu setzen. Daher ist es nicht verwerflich, dass Faeser den Weg auch für sich beansprucht, den vor ihr sehr viele Politikerinnen und Politiker bereits gegangen sind.
Skandal, schreit dennoch die Union, bereits voll im Wahlkampfmodus. Und auch von den Grünen, die in Hessen mit der CDU regieren und sich laut Umfragen sehr nah bei den Beliebtheitswerten der Christ- und Sozialdemokraten bewegen, kommen entsprechende Äußerungen.
Gerade bei der CDU erinnert man sich noch sehr gut an das brutale Scheitern des Norbert Röttgen und wittert nun Parallelen. Er wollte einst als amtierender Bundesumweltminister Ministerpräsident in NRW werden und wie Faeser nur dann ins Land wechseln. Doch er unterlag und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) entließ ihn kurz danach. Könnte diese „Röttgen-Falle“ also auch bei Faeser zuschnappen? Wohl kaum. Denn Röttgen wurde nachgesagt, dass er das Amt des Ministerpräsidenten auch als Sprungbrett für eine Kanzlerkandidatur in fernerer Zukunft sah.
Rückhalt fehlte ihm dafür gleich an zwei wichtigen Fronten: Bei der Bundespartei und der amtierenden Kanzlerin. Bei Faeser ist das völlig anders, weshalb der Röttgen-Vergleich nicht zieht: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) muss Faeser nicht als potenzielle Konkurrentin vor dem nächsten Bundestagswahlkampf fürchten, er steht hinter ihrer Kandidatur in Hessen und die SPD sowieso. Denn für die Sozialdemokraten gehen mit Faesers Antritt die besten Chancen einher, um einmal beweisen zu können, dass Schwarz-Grün in einem wichtigen Flächenland besiegbar sein kann.
Doch Union und Grüne haben in einem anderen Punkt durchaus recht: Der Kabinettsposten sei doch wichtiger, als nur als Sicherheitsnetz zu dienen. Und die Führung des Bundesinnenministeriums tauge insbesondere in diesen Zeiten mit vielen Kriegsflüchtlingen nicht als Teilzeitjob, argumentieren sie. Faeser macht sich an dieser Stelle angreifbar, indem sie ab jetzt eine Ministerin auf Abruf ist.
Ihre Kandidatur birgt das Risiko, weder im Ministerium noch in Hessen als wirklich engagiert wahrgenommen zu werden. Erst recht in der heißen Wahlkampfphase ab Sommer, wenn sich nach Ansicht amerikanischer Militärexperten auch der Ukraine-Krieg entscheiden könnte. Sie muss also noch mehr als andere vor ihr beweisen, dass sie beidem gerecht wird.
Für Scholz hat Faesers Doppelrolle bei allem Risiko einen Vorteil: Er kann sich in Ruhe umschauen nach einer Frau als mögliche Nachfolgerin. Und das wird – wie Christine Lambrechts Rücktritt als Verteidigungsministerin und die Nachbesetzung durch Boris Pistorius gezeigt hat – schwierig genug.