Nach Erdogans Offensive Flüchtlingspakt mit der Türkei wackelt

Berlin · Nach dem Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien steht zur Debatte, ob Präsident Erdogan für Europa noch ein Partner sein kann. Das Flüchtlingsabkommen scheint brüchig zu werden. Der Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament Weber hat der Türkei nun die Aufkündigung der Zollunion angedroht.

 Der russische Präsident Putin und der türkische Präsident Erdogan wollen sich am Dienstag erneut treffen.

Der russische Präsident Putin und der türkische Präsident Erdogan wollen sich am Dienstag erneut treffen.

Foto: dpa/Yuri Kochetkov

Mit der Zuspitzung der Lage in Nordsyrien steht auch das EU-Flüchtlingsabkommen auf der Kippe. Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits damit drohte, das Abkommen aufzukündigen und wieder mehr Flüchtlinge nach Europa übersetzen zu lassen, wachsen in Europa angesichts des Einmarschs türkischer Truppen nach Nordsyrien die Zweifel, ob Erdogan grundsätzlich als Partner dienen kann.

Kern des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens ist die Vereinbarung, dass Erdogan in Lagern mehr als drei Millionen Flüchtlinge des Syrienkriegs versorgt. Dafür zahlt die EU sechs Milliarden Euro an die Türkei.

Das Abkommen ist in jedem Fall ein Druckmittel für die türkische Seite. Der türkische Botschafter in Berlin, Ali Kemal Aydin, forderte die EU zur Aufnahme vieler weiterer Flüchtlinge auf. „Wir erwarten, dass die Last der Flüchtlinge, die wir seit acht Jahren allein tragen, unter den europäischen Ländern gerecht verteilt wird“, sagte Aydin unserer Redaktion. Es bestehe kein Zweifel, dass die Türkei all ihre Verpflichtungen aus dem Türkei-EU-Abkommen für Flüchtlinge „vollständig erfüllt“ habe, erklärte Aydin. Das Abkommen habe bisher große Migrationsströme nach Europa verhindert. Allerdings sei die EU nur einem Teil ihrer Verpflichtungen nachgekommen. „Wir erwarten von der EU, all ihre Verbindlichkeiten aus dem Abkommen zu erfüllen und ihre Versprechen zu halten“, unterstrich der Botschafter.

In Deutschland und bei EU-Politikern findet sich ein gemischtes Bild, was der Deal mit der Türkei noch wert ist. Der Chef der Konservativen im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), sieht das Abkommen grundsätzlich positiv, knüpft eine Fortführung aber an Bedingungen. „Das EU-Türkei-Abkommen ist eine Win-win-Situation für beide Seiten“, sagte Weber unserer Redaktion.Für eine Verlängerung müssten aber Grundsatzfragen geklärt werden, betonte er. „Europa muss die Botschaft aussenden: Wir lassen uns nicht erpressen. Wir sind auch zu Konsequenzen bereit, sollte sich die Türkei nicht zu einem partnerschaftlichen Ansatz zurückbewegen.“

Dabei stünden im deutsch-türkischen Verhältnis die Hermes-Bürgschaften für Unternehmen und im europäisch-türkischen Verhältnis die Zollunion zur Debatte. Den Vorteil der Zollunion könne die Türkei nur dauerhaft in Anspruch nehmen, wenn sie sich partnerschaftlich zu Europa verhalte, sagte der CSU-Politiker. Die Liste der Vorgänge, die Europa nicht akzeptieren könne, sei lang. Dazu zählten der völkerrechtswidrige Einmarsch nach Nordsyrien, die Bohrungen in Zypern, die fehlende Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei und die Drohungen, das EU-Türkei-Abkommen aufzukündigen. „Wenn sich nichts ändert, muss beim Gipfel im Dezember über Konsequenzen gesprochen werden.“

 Grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zeigte sich die stellvertretende Vorsitzende der Linken im Bundestag, Sevim Dagdelen, Sie rief die Bundesregierung dazu auf, „dringend an tragfähigen Alternativen zum EU-Türkei Deal zu arbeiten“. Dazu gehöre, Fluchtursachen zügig anzugehen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien müssten aufgehoben werden, weil diese den Wiederaufbau des Landes blockierten und Millionen Menschen jegliche Perspektive auf Rückkehr raubten. „Wir müssen klare Kante gegen den Kriegsverbrecher Erdogan zeigen“, forderte Dagdelen. Deshalb seien ein umfassendes Waffenembargo und ein Stopp der Finanz- und Kredithilfen für das Regime in Ankara nötig.

Auch der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak lehnt den Deal ab und sagt, die EU habe sich dadurch von Erdogan abhängig gemacht. Dieser nutze die Situation aus. „ Die EU muss Erdogan endlich Grenzen aufzeigen, ansonsten wird er immer weitermachen.“ Die EU habe genug Hebel in der Hand wie zum Beispiel die Zollunion und die Hermes-Bürgschaften für Unternehmensinvestitionen. „Es reicht nicht, wenn Außenminister Maas den Einmarsch der Türkei in Nordsyrien als völkerrechtswidrig kritisiert. Die deutsche Politik hebt nur den Zeigefinger, reagiert aber mutlos und ängstlich gegenüber Erdogan.“

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) forderte eine international kontrollierte Sicherheitszone im syrischen Grenzgebiet. Einen entsprechenden Vorschlag habe sie mit Kanzlerin Angela Merkel abgestimmt und westlichen Verbündeten vorgeschlagen, sagte Kramp-Karrenbauer der Deutschen Presse-Agentur. Über eine Beteiligung der Bundeswehr müsse der Bundestag entscheiden.

Toprak brachte dafür ein UN-Mandat ins Spiel. „UN-Soldaten könnten das Sicherheitsbedürfnis der Türken an ihren Außengrenzen gewährleisten und zugleich die Kurden vor den türkischen Truppen schützen“, sagte er.

Ohne Russland wird keine Lösung in der Region möglich sein. Am Dienstag wollen sich der russische Präsident Wladimir Putin und Erdogan treffen. Im Vorfeld sprach der russische Außenminister Sergej Lawrow von einer Eingliederung der Kurden in das syrische Staatswesen.

NRW-Integrations-Staatssekretärin Serap Güler (CDU) rief dazu auf, das Abkommen an die Realität anzupassen. Beispielsweise sollten die versprochenen EU-Mittel nicht nur für Projekte in der Türkei, sondern auch für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge vor Ort abgerufen werden können. „Ansonsten besteht tatsächlich die Gefahr, dass das Abkommen nur noch auf dem Papier existiert“, warnte Güler. Sie erinnerte zugleich daran, dass auch die Türkei mit der Aufnahme von über drei Millionen Flüchtlingen an ihre Grenzen gestoßen sei, und zwar „nicht nur bei den Aufnahmekapazitäten, sondern auch mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz“.

(qua/may-)
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