Analyse nach der Europawahl Volkspartei in Grün

Die Grünen haben erstmals bei einer bundesweiten Wahl die SPD überholt. Den Begriff der Volkspartei vermeiden sie bewusst. Dennoch wollen sie mehr „gesellschaftliche Bindekraft“ entfalten.

 Seit Annalena Baerbock und Robert Habeck die Grünen führen, geht es mit der Partei bergauf.

Seit Annalena Baerbock und Robert Habeck die Grünen führen, geht es mit der Partei bergauf.

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

In der politischen Mitte in Deutschland ist gerade viel Platz. Viel Platz für die Grünen. In ihrem Ringen um Profil und Unterscheidbarkeit sind SPD und Union auseinander gerückt – ganz klassisch die SPD mit weitgehenden Sozialstaatsforderungen nach links, die CDU mit scharfen Akzenten in der Sicherheits- und in der Gesellschaftspolitik nach rechts.

Für die Grünen wiederum erweist es sich als glückliche Fügung, dass sie sich vom Image der Verbotspartei befreit, ihre parteiinternen Machtkämpfe beendet und sich auf ihr Kernthema, den Umweltschutz, besonnen haben. Kurzum, sie sind gut aufgestellt in einer Zeit, in der das Thema Klimaschutz aus der Mitte Gesellschaft auf die Straße und an die Politik herangetragen wird. Aus der Jugendbewegung „Fridays for future“ ist in wenigen Monaten eine Volksbewegung geworden, der sich Wissenschaftler, Eltern und Großeltern angeschlossen haben. Die Grünen müssen auf die Forderungen dieser Demonstranten nicht in Parteigremien nach Antworten suchen. Sie haben sie. Sie müssen nur ihr Parteiprogramm vorlesen: Kohleausstieg, erneuerbare Energien, CO2-Bepreisung, Verkehrswende, Tierschutz, nachhaltige Ernährung. Die Themen der Grünen haben derzeit Hochkonjunktur.

Die inhaltliche Aufstellung ist  nicht  allein die Grundlage des Erfolgs. Keine andere Partei ist heute so smart, so flexibel und zu allen Seiten offen wie die Grünen, die vor knapp 40 Jahren als Fundamentalisten mit Sonnenblumen, langen Bärten und weiten Gewändern in den Bundestag einzogen. In neun von 16 Bundesländern sind die Grünen an Regierungen beteiligt. Sie koalieren mit CDU, SPD, Linken und FDP, ohne Profil einzubüßen.

Den Grünen kann eigentlich nur der eigene Erfolg gefährlich werden. Sie sind nicht darauf vorbereitet, als Volkspartei wahrgenommen zu werden mit allen damit verbundenen Erwartungen der Bürger. Eine Partei, die über 20 Prozent erreicht, die Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten stellen kann, nehmen die Wähler auch in die Pflicht, integrativ zu wirken. Solche Parteien müssen Verantwortung für alle und nicht nur für die eigene Klientel übernehmen. „Wir wissen, dass wir den Auftrag bekommen haben, orientierungsgebende Kraft zu sein“, fasste Robert Habeck am Montag das neue Verantwortungsgefühl der Grünen zusammen. Dem Parteichef, der sich immer hartnäckig gegen den Begriff Volkspartei für die Grünen gestemmt hatte, war es bei seinem Auftritt vor der Hauptstadtpresse anzumerken, dass er das furiose Ergebnis der Grünen auch als Last empfindet.

Im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms, das die Grünen 2020 verabschieden wollen, ordnen sie sich selbst das Genre „Bündnispartei“ zu, deren Politik sich an alle Bürger richte. Das wäre dann die alte Volkspartei in neuem Gewand. Die Grünen formulieren auch ganz offen, dass es ihnen darum gehe, „gesellschaftliche Bindekraft zu entfalten“ und „handlungsfähig zu werden für die Zeit nach den Volksparteien“. Diese Zeit könnte anbrechen, bevor die Zukunftsplanung der Grünen in Form des neuen Grundsatzprogramms verabschiedet ist. Nach der klassischen politikwissenschaftlichen Definition macht das Wesen einer Volkspartei unter anderem Wahlergebnisse von mehr als 30 Prozent aus. Bei der Europawahl traf das auf keine Partei zu.

Wenn der Trend zu mehreren 15 bis 30 Prozent Parteien anhalten sollte, werden sich die Grünen auch mit der Perspektive Kanzleramt auseinandersetzen müssen. Bislang reagiert Habeck auf die K-Frage für die Grünen, als mache man ihm ein unmoralisches Angebot. Mit dieser Haltung steht der Parteichef nicht alleine. Die Parteistrategen auf allen Ebenen verweisen bei diesem Thema auf das Beispiel des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der 2011 Spitzenkandidat der Grünen war, ohne einen konkreten Machtanspruch auf die Staatskanzlei zu formulieren. Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima und den Protesten gegen den Großbahnhof Stuttgart 21 wurden die Grünen damals mit gut 24 Prozent zweitstärkste Kraft und konnten mit der SPD als Juniorpartner der CDU das Amt des Regierungschefs wegnehmen. Fünf Jahre später wurde Kretschmann mit mehr als 30 Prozent im Amt bestätigt. Mit seiner  behäbigen Art und seinen konservativen Positionen hat er die Grünen in Berlin oft genug zur Weißglut getrieben. Zugleich lieferte er die Blaupause, wie die Grünen als Partei für die breite Masse und mit einem eigenen Regierungschef an der Spitze  funktionieren können.

Ein Punkt wird sich nicht auf Bundesebene übertragen lassen. Das Kanzleramt bekommt man nicht, ohne einen Kandidaten oder eine Kandidatin dafür zu präsentieren. Auch nicht Grünen. Nur wer diesen Job wirklich will und eine echte Machtoption präsentieren kann, hat die Chance auf die Kanzlerschaft.

Zurzeit aber ist es die cleverste Taktik diesen möglichen Machtanspruch auf kleiner Flamme zu halten. Ansonsten müssten sich die Parteichefs auch dem harten Kandidaten-Check unterziehen. Hat Robert Habeck wirklich die Nerven für solch einen Job? Fehlt es Co-Parteichefin Annalena Baerbock nicht an Erfahrung?

Bis Ende 2020 kann die Strategie bundesweit aufgehen, als Programmpartei mit attraktivem Spitzenpersonal weiter zu wachsen.  Erst dann müssen die Grünen die Entscheidung fällen, ob sie Kurs aufs Kanzleramt nehmen.

Wie sehr Habeck sich mit dem Gedanken trägt, die Grünen zu einer Volkspartei zu machen, ohne sie so zu nennen, zeigt seine Bereitschaft, auch im Osten Verantwortung zu übernehmen, wo die Grünen traditionell schwach sind. Er sagt: „Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschland nicht wieder in zwei Teile zerfällt.“

(qua)
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