Friedensverhandlungen Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen - und lässt etwas außer Acht

Analyse | Düsseldorf · Nun plädiert auch der bedeutendste lebende Philosoph in der Süddeutschen Zeitung für sofortige Verhandlungen mit Russland. Habermas macht auf viele Unschärfen in der aktuellen Debatte aufmerksam, aber den entscheidenden Faktor benennt auch er nicht.

 Der Philosoph Jürgen Habermas bei einem Auftritt vor fünf Jahren.

Der Philosoph Jürgen Habermas bei einem Auftritt vor fünf Jahren.

Foto: dpa/Arne Immanuel Bänsch

Die Ukraine darf den Krieg gegen Russland nicht verlieren. Ausgehend von dieser Formel des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz plädiert auch der Philosoph Jürgen Habermas für den sofortigen Versuch, mit Russland über einen Waffenstillstand zu verhandeln. In einem langen Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung führt er aus, warum er es für vernünftig hält, den Krieg gegen Russland nicht gewinnen, sondern „nur“ nicht verlieren zu wollen. Habermas sieht darin ein „Moment der Zurückhaltung“ und zugleich eine Warnung, die Zahl der Opfer und das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen des Kriegs im Blick zu halten. Der Philosoph glaubt, dass dem Westen die Verantwortung zukommt, die „Verhältnismäßigkeit“ des Kriegs abzuwägen, dass es also keine bedinungslose Unterstützung für die Ukraine geben kann, obwohl nach Putins Überfall eindeutig ist, wer in diesem Krieg der Aggressor ist.

Ein vermeintliches „Schlafwandeln am Rande des Abgrunds“ bereitet dem Philosophen Sorge. Auch glaubt er wie andere, die öffentlich für sofortige Friedensverhandlungen eintreten, kürzlich etwa Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit ihrem „Manifest für den Frieden“, dem „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ gegenüberzustehen. Als gäbe es die Debatte nicht, an der er sich selbst beteiligt. Doch weist Habermas mit seiner analytischen Schärfe auf tatsächliche Unbestimmtheiten in aktuellen Diskussionen. Etwa die fortwährenden Beteuerungen, die Ukraine allein solle über den Moment entscheiden, wann über einen Waffenstillstand zu verhandeln sei. Diese Formulierung ist dem Respekt vor einem Land geschuldet, das die Opfer an Menschenleben und Zerstörung der eigenen zivilen Infrastruktur alleine trägt. Doch natürlich verfolgt der Westen eigene Interessen und bestimmt durch seine Waffenlieferungen und Aufklärungsdaten, wie lange die Ukraine für Freiheit und den Erhalt ihres souveränen Landes kämpfen kann. Habermas drängt darauf, dass der Westen deutlicher seine eigene Verantwortung für den weiteren Kriegsverlauf annimmt – und nicht vertuscht, dass es Differenzen zwischen ukrainischen und westlichen Interessen gibt. Etwa das legitime Interesse der Nato, weiter nicht direkt Kriegspartei zu werden.

Je länger ein Krieg dauert, desto mehr wird er als ein Zustand andauernder Barbarei wahrgenommen, der möglichst schnell enden sollte. Doch verwischt diese Wahrnehmung auch Grenzen. Der Ausgangspunkt, der völkerrechtwidrige, verbrecherische Überfall eines Landes auf ein anderes, spielt etwa nicht mehr die Rolle, die er aus ukrainischer Perspektive selbtsverständlich weiterspielt. Auch das führt Habermas erhellend aus. Dass es im 21. Jahrhundert überhaupt zu einem bewaffneten Konflikt dieser Art in Europa gekommen ist, ist stellt für den Philosophen die Zerstörung aller Hoffnung auf den Triumph des modernen Völkerrechts über die Gewaltlogik des Kriegs dar. Doch folgert er daraus eben nicht, dass nur ein Sieg über den Aggressor die rechte Antwort wäre, sondern ein für beide Seiten tragbarer Kompromiss gefunden werden müsse, um weitere Opfer zu verhindern.

Ganz im Sinne seiner eigenen Theorien zum Ausgleich von Interessen im Dialog und im kommunikativen Handeln will Habermas dem Wort wieder eine Chance eingeräumt sehen. Doch scheint das im Moment jedenfalls ein einseitiger Wunsch. Putin hat allem Anschein nach die Frühjahrsoffensive begonnen, die Militärstrategen erwartet hatten, er kämpft verbissen um die Stadt Bachmut und rechnet sich vermutlich noch ganz andere Ziele aus, wenn er den Krieg nur in die Länge zieht – und der Rückhalt der Ukraine bröckelt. Es wäre also vielleicht schlau, Putin jetzt zu einem Ende der bewaffneten Auseinandersetzung zu bringen, aber dazu müsste ja auch die Gegenseite das Gefühl haben, Verhandlungen seien dem weiteren Kriegsgeschehen vorzuziehen. Doch genau der Punkt dürfte bei Putin längst nicht erreicht sein. Vielmehr könnten gerade die aktuellen Rufe nach Friedensverhandlungen seinen Eindruck verstärken, dass ein Setzen auf Zeit sich für ihn lohnt - egal welche Opfer es kostet.

Habermas wie andere Fürsprecher sofortiger Verhandlungen macht sich dagegen Gedanken über die Gesichtswahrung Putins und die möglichen Folgen, die eine Rückeroberung der Krim haben könnte. Doch womöglich ist das der naive westliche Blick auf das Geschehen. Denn es nimmt an, Putin sehe sich selbst bereits als Verlierer und suche händeringend nach einem Ausweg aus diesem Krieg. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Die hohen Verluste seiner eigenen Armee, all die jungen Männer Russlands, die in diesem Krieg bereits gestorben sind, scheinen in Putins Kalkül eine geringe Rolle zu spielen, sonst hätte er diesen Krieg gar nicht erst begonnen und würde ihn jetzt anders führen. Es gibt auch keine Signale aus Russland, dass man dort an einem Waffenstillstand interessiert wäre. Vielmehr dürfte man Gesprächsangebot jetzt in Moskau als Zeichen der Schwäche interpretieren.

Habermas nennt diesen Einwand gegen sofortige Gesprächsangebote selbst – und kann ihm im Grunde nichts entgegensetzen, außer immer wieder den Hinweis auf die Opferzahlen, die weiter und weiter steigen werden. Verbunden mit der Angst vor einem Krieg mit erstarrten Fronten, wie er in Analogie an der Westfront im Ersten Weltkrieg zu erleben war. Natürlich ist das der denkbar gewichtigste Einwand, doch bleibt eben fraglich, ob ein jetzt geschlossener Waffenstillstand Putin nicht nur Zeit schenken würde, sich neu zu sortieren und zu weiteren Schlägen auszuholen. Putins Selbsteinschätzung ist also einer der wichtigsten Faktoren in der gesamten Abwägung. Die Einschätzung bleibt schwer. Doch bei den Befürwortern baldiger Verhandlungen, spielt der Aggressor selbst eine auffallend geringe Rolle.

Waffenstillstandsverhandlungen müssten indes in einen Zustand führen, der weitere Aggressionen verhindert, den Ukrainern ein Leben in einem souveränen Staat mit freiheitlicher Ordnung ermöglicht und nicht das Signal sendet, völkerrechtswidrige Überfälle könnten sich lohnen. Wie ein solches Verhandlungsergebnis zu erreichen sein soll, wenn Putin den Eindruck gewinnen kann, der Rückhalt für die Ukraine im Westen bröckele, es mangele dem Westen also – anders als ihm selbst – an Durchhaltewille, ist das wichtigste Argument gegen Verhandlungen jetzt. So sehr sich jeder mitfühlende Mensch ein Ende des Sterbens und des Leids in einem die Gegenwart beschämenden Krieg nur wünschen kann.

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