Nach den jüngsten Wikileaks-Enthüllungen Mit dem Internet kommt das Ende der Vertraulichkeit

Washington (RP). Das neue Medium Internet mit seinen unbegrenzten Informationsmöglichkeiten revolutioniert das jahrtausendealte System staatlicher Beziehungen. Ein einziges Leck stellt eine Supermacht vom Range der Vereinigten Staaten bloß und vergiftet die Beziehungen dieses Landes mit dem Rest der zivilisierten oder gewalttätigen Welt.

Was in den Wikileaks-Dokumenten über die Politiker der Welt steht
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Was in den Wikileaks-Dokumenten über die Politiker der Welt steht

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Den Beginn der Diplomatie datieren die Historiker gern auf das 14. Jahrhundert vor Christus. Der ägyptische Pharao Echnaton — in seiner damaligen Machtfülle in der ersten Zivilisation der Menschheit durchaus vergleichbar mit dem heutigen amerikanischen Präsidenten — unterhielt während seiner Amtszeit eine umfangreiche Korrespondenz mit den Königen und Potentaten des Vorderen Orients.

In seiner neuen Hauptstadt Amarna am Nil sammelte er die Schreiben der anderen Mächtigen seiner Zeit, aber auch die vertraulichen Berichte seiner Sendboten über Verhalten und Eigenschaften von Verbündeten und Feinden.

Der mächtige Pharao Echnaton hatte Glück. Seine geheimen Kassiber wurden erst 1887 entdeckt — von einer ägyptischen Bäuerin. Die Geheimberichte waren nur noch für die Archäologen und Historiker von Bedeutung. Ägypten aber blieb über 3000 Jahre diejenige Supermacht in der Geschichte, die am längsten überlebte.

251.287 vertrauliche Berichte

Die USA beherrschen die Welt erst seit knapp 100 Jahren. Die Veröffentlichung der 251.287 vertraulichen Berichte ihrer Botschaften in aller Welt legt die Diplomatie der Supermacht derart bloß, dass dies den Niedergang des weltweit führenden Landes einleiten könnte.

Das Internet — die wichtigste Erfindung des ausgehenden 20. Jahrhunderts — revolutioniert die Welt der Diplomatie. Die rücksichtslose Offenlegung des Informationssystems einer Weltmacht, ihrer Strategien und Einschätzungen, mit allen Verästelungen, macht die Vereinigten Staaten zu einem tönernen Riesen. Sie zeigt das Ende der Vertraulichkeit und besonders dramatisch: die Verletzlichkeit offener Systeme.

Zunächst ist gegen eine Veröffentlichung von Geheimpapieren aus journalistischer Sicht wenig einzuwenden. Die Herrschenden werden mit brisanten Veröffentlichungen unter Druck gesetzt. Sie werden gezwungen, ihre Politik transparenter zu machen. Ihre Macht wird beschnitten, ein demokratischer Vorgang.

Die neue Qualität des Internets kommt mit der ungeheuren Menge des Materials, mit deren sofortiger Verfügbarkeit und der Möglichkeit, ein vollständiges Bild etwa der amerikanischen Positionen und Einschätzungen zu erhalten. Für die Diplomatie, zumal eines demokratischen Landes, ist die neue Qualität verheerend. Die wahren Interessen der Vormacht des freien Westens und auch ihre Durchsetzung liegen offen — für Verbündete und Feinde.

Eine gnadenlose Offenheit

So wird die heikle Machtbalance im Nahen und Mittleren Osten demaskiert, die Überlegenheit Israels und die Sehnsucht der arabischen Herrscher, sich mit dem Judenstaat zu arrangieren. Für Brandstifter wie den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad bieten die Dokumente nun eine wahre Schatztruhe für seine Propaganda, die er in seinem Vernichtungswillen gegen Israel einsetzen kann. Er dürfte sich in der muslimischen Welt nun als wahrer Sachwalter der islamischen Idee präsentieren. Das ist der Preis für die gnadenlose Offenheit des Internets.

Äußerst kompliziert dürfte auch das Verhältnis der USA zur Türkei werden. Deren Ministerpräsident Tayyip Erdogan fühlt sich vom wichtigsten Verbündeten nicht ernst genommen. Die Tendenz, sich radikalen islamistischen oder nationalistischen Regimen im Vorderen Orient zuzuwenden, wird rasant zunehmen.

Auch die Beziehungen zu den Partnern in der Allianz werden durch die offenherzigen Berichte stark belastet — gerade in einer Zeit, in der sich das transatlantische Bündnis lockert. Die deutsche politische Elite wird die medienwirksame Enthüllung ihrer Einschätzung durch die USA zwar professionell herunterspielen. Aber die Verletzungen bleiben, zumal auch die Zuträger vertraulicher Informationen nun bekannt sind.

Natürlich bergen die Einschätzung des US-Botschafters Philip Murphy im Grunde wenig Überraschendes. Aber wie wollen beispielsweise die Außenminister Hillary Clinton (USA) und Guido Westerwelle (Deutschland) vertrauensvoll miteinander reden, wenn der Deutsche weiß, dass die Amerikanerin ihn für inkompetent und anmaßend halten könnte?

USA müssen Vertrauen aufbauen

Und es ist wieder die Menge, nicht der Einzelfall, die das Ende der bisherigen Diplomatie der USA einläutet. Ähnlich wie bei der weltweiten Terrorgefahr könnte durch die Veröffentlichungen ein wichtiges Stück des demokratischen Umgangs miteinander verloren gehen. Die USA müssen nun ihr Informationssystem abriegeln und gleichzeitig Vertrauen aufbauen. Beides wird kaum gehen. Das ist das neue Dilemma der US-Diplomatie.

Zugleich müssen sich die demokratischen Länder vor einem massiven Geheimnisverrat schützen. Die Weitergabe von Staatsgeheimnissen ist strafbar — in allen rechtsstaatlich organisierten Ländern und erst recht in den Diktaturen. Doch ebenso besteht im Sinne der Meinungsfreiheit der unbedingte Informantenschutz und die Möglichkeit, Geheimnisse zu veröffentlichen.

Ein neues Gesetz, das die Bundesregierung plant, geht exakt in diese Richtung. Das ist widersprüchlich — wie so vieles in liberal verfassten Staaten. So hätte der Watergate-Skandal ohne den Bruch der Vertraulichkeit die USA in ein korruptes Land verwandelt. Deutschland wäre ohne die Spiegel-Affäre nicht die Demokratie, die das Land jetzt auszeichnet.

Aber auch der Frieden im Balkan 1995 oder die gewaltlose Revolution im Osten wären nicht möglich gewesen, wenn die Feinde der offenen Gesellschaft alle Staatsgeheimnisse gewusst hätten. Solange investigative Journalisten die Dokumente bewerteten, bevor sie sie veröffentlichten, war die Balance gewahrt. Das Internet mit seinem unbegrenzten Raum für Geheimnisverrat kippt das Gleichgewicht.

Die alten Griechen hatten ein gutes Gespür für die Balance. Jedes staatliche System kann sich danach in sein Gegenteil verwandeln — die Monarchie in die Tyrannis, die Aristokratie in die Oligarchie, die skrupellose Herrschaft weniger, und schließlich die Demokratie in die Anarchie. Ob sich ein neues Gleichgewicht unter solchen Bedingungen herausbilden kann, ist offen.

(RP)
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