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Runder Tisch Heimerziehung Missbrauchsopfer kämpfen für Gerechtigkeit

Düsseldorf (RPO). Bis in die 1970er Jahre sind in der Bundesrepublik hunderttausende Kinder in Heimen missbraucht und zur Arbeit gezwungen worden. Ein Runder Tisch hat das Unrecht aufgearbeitet und am Montag seinen Abschlussbericht vorgelegt. Doch nun gibt es Streit um eine angemessene Entschädigung der traumatisierten Opfer.

Wie entdeckt man, ob ein Kind missbraucht wird?
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Foto: AP

Was zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik passiert ist, hätte man in einem Rechtsstaat für unmöglich gehalten. In westdeutschen Erziehungsheimen fand ein systematischer Missbrauch von Kindern statt - unter der Obhut von Bund, Ländern und Kirchen. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle: Bis zu 800.000 Menschen sollen betroffen sein.

Der Missbrauch war Teil des Systems, mitten in Deutschland existierten quasi rechtsfreie Räume, in denen die Kinder entmündigt waren. Die Schilderungen der ehemaligen Heimbewohner sind erschreckend: Drohungen und Repressalien waren an der Tagesordnung. Von Schlägen mit durchnässten Bettlaken ist die Rede und von Erbrochenem, das gegessen werden musste. Andere Kinder wurden in manchen Fällen tagelang eingesperrt, auch sexuelle Übergriffe hat es gegeben.

Missbrauch mit System

Gängig war auch Zwangsarbeit. Die unterfinanzierten Heime mussten sich so einen Teil ihres Budgets dazuverdienen. Mancherorts fand eine "Vermietung" der jugendlichen Heimbewohner an Bauern und Handwerker statt. Von dem verdienten Geld sahen die Kinder nichts.

Viele Heimkinder hätten großes Leid erfahren, aus dem oft anhaltende Benachteiligung erwachsen sei, sagte EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider. Er zeigte sich "traurig und tief erschüttert" über die vielen Details, die während der Arbeit am Runden Tisch ans Licht gekommen sind. Hier seien "schlimmes Handeln und schlimmes Unterlassen" offenbar geworden.

Zwei Jahre lang hat der "Runde Tisch Heimerziehung" unter Leitung der Grünen-Politikerin Antje Vollmer versucht, dieses Unrecht aufzuarbeiten und das lange Zeit unbeachtete Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. Mit am Tisch saßen die Vertreter von Kirchen, Ländern, Bund, Verbänden und den Opfern.

Streit um Entschädigung

Doch nun gibt es Streit: In dem am Montag vorgelegten Abschlussbericht empfiehlt das Gremium die Einrichtung einer 120 Millionen Euro schweren Stiftung, um die verbliebenen Heimkinder entschädigen. Rund 30.000 sollen anspruchsberechtigt sein. Ein Großteil der Opfer ist heute noch traumatisiert von den Erlebnissen ihrer Kindheit.

Die Opfervertreter sind mit dem Vorschlag nicht einverstanden. Der Verein ehemaliger Heimkinder will gegen eine solche Stiftung, sollte sie wie vorgesehen kommen, vor Gericht ziehen. Die Vereinsvorsitzende Monika Tschapek-Güntner sagte am Montag im Deutschlandradio Kultur, bei dem Vorschlag handele es sich um eine "billige Abspeisung" und "Demütigung" der Betroffenen. Der Verein werde das Ergebnis "nicht anerkennen", sagte sie. Man werde dagegen klagen und notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Bei geschätzten 30.000 Anspruchsberechtigten bekomme der Einzelne von der geplanten Stiftung 2000 bis 3000 Euro, sagte Tschapek-Güntner. Es könne nicht sein, dass Menschen, die als Kind Misshandlungen, Folter und sexuellen Missbrauch erlebt hätten, derart abgefertigt würden. "Eigentlich müssten alle, die am Runden Tisch sitzen, sich dafür schämen", sagte sie. Tschapek-Güntner forderte erneut eine Einmalzahlung für die Betroffenen von 50.000 Euro oder eine zusätzliche monatliche Rente in Höhe von 300 Euro. Zum Vergleich: In Irland erhielten die Opfer in ähnlichen Fällen durchschnittlich 70.000 Euro.

Geringe Erfolgsaussichten für Klage

"Wir haben nicht alles, aber wir haben viel erreicht", sagte einer der Betroffenen, der sich am Runden Tisch beteiligt hatte, Hans-Siegfried Wiegand. Er mahnte, der Fonds dürfe nicht gedeckelt werden. Alle Antragsteller müssten Hilfen bekommen. Wiegand rief deshalb zu allgemeinen Spenden für den Finanztopf auf.

Ob eine Klage erfolgreich wäre, ist mehr als fraglich. Die Bundesländer, die die Heimaufsicht seit 1953 hatten, sind juristisch nicht belangbar. Seinerzeit gingen keine Beschwerden ein. Außerdem ist körperliche und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zehn Jahre nach der Volljährigkeit des Opfers verjährt, in schweren Fällen verdoppelt sich die Frist auf 20 Jahre. Die letzte Hoffnung für die Opfer sind der Bundestag und die westdeutschen Länderparlamente, die über die Entschädigungen befinden müssen.

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